Von den Vierlanden in den Harz
Autor
Autorenportrait: Hans Christian Andersen

- 1831 -
Per Postkutsche durch die Lüneburger Heide
Wir waren nun in den Vierlanden. Kleine Kanäle kreuzten sich, alles war so üppig und grün, die Kirschbäume hatten Früchte angesetzt, obgleich es erst der 21. Mai war. Ringsum war alles ein großer Küchengarten, und das sind die Vierlande auch für Hamburg und die ganze Gegend.
Dicht am Wege standen hübsche Häuser, und einige hatten Glasbilder an den kleinen Fenstern. Kinder, Mädchen und Jungen mit klugen Augen, liefen neben dem Wagen her und wollten uns Blumen verkaufen, wir bekamen für eine Kleinigkeit Sträuße und Kränze.
Eine Reise durch die Vierlande in den Harz ist doch ein sehr lebendiges Bild des ganzen Menschenlebens! - Die üppige, grüne Natur, deren Bewohner ruhig hinter den Deichen schlafen, ohne vom unruhigen Fluß zu träumen, der jeden Augenblick über sie hereinbrechen kann, erschien mir als die glückliche, lebensgrüne Kinderwelt, wo auch überall Kirschen und Pflaumen, Zuckererbsen und bunte Blumen wachsen. Doch kaum haben wir dieses glückliche Land verlassen, kaum haben wir die Elbe der Wirklichkeit überquert, so liegt vor uns die große Lüneburger Heide des Lebens, die aber doch nicht so schlimm ist wie ihr Ruf. Auch hier wachsen grüne Wälder, und wenn es auch nur Nadelbäume sind, so spenden sie doch Schatten; auch hier findet man Menschen, die Vögel zwitschern nett auf den grünen Wiesen, und hinter dem ganzen großen Heideland erhebt sich das himmelhohe Harzgebirge, wo selbst die sonnenbeschienenen Wolken tief unter uns liegen.
Bei Zollenspiker, der Stadt, die auf einer Insel zwischen der Elbe und der Ilmenau liegt, kamen wir alle auf eine große Fähre und fuhren nun über den Elbestrom, der mit ungeheurer Geschwindigkeit gen Hamburg eilte, als hätte er tausend Neuigkeiten von den böhmischen Bergen in die »Börsenhalle« zu bringen.
Wir stiegen an Land und standen nun auf englischem Boden - im Königreich Hannover.
Bei Winsen, einem hannoverschen Flecken an einem kleinen Fluß, war die Gegend noch recht erträglich. An der ersten Straßenecke hatte der Maler mit großen weißen Buchstaben den Namen der Stadt, »Winsen«, geschrieben und daneben ein großes Komma gesetzt, als wollte er andeuten, daß sich von dieser Stadt etwas mehr als nur der Name sagen ließe.
Die Einwohner der Stadt saßen auf einer Treppe und tranken Tee, wir warfen den Damen Kußhände zu, und sie nickten zurück, so vertraulich, als ob wir gute Bekannte wären. Hinter dem alten Kirchturm ging die Sonne unter und färbte uns allen die Wangen rot, als wir davonrollten in die große Heidelandschaft.
Die war noch nicht so schlimm, auf dieser Seite von Lüneburg! Die jungen Kiefern hatten frische, weißgrüne Triebe, der ganze Wald sah wie ein Gewimmel von Weihnachtsbäumen mit kleinen Lichtern aus, nur die Geschenke fehlten.
Wir rollten weiter, über Sand und zwischen Tannen.
Von den zwanzig Reisenden, die Hamburg verlassen hatten, waren wir schon auf sechs zusammengeschmolzen und saßen nun Herz an Herz in der großen Postkutsche. Wir bildeten gewissermaßen eine Herz-Sechs, denn drei Herzen waren auf jeder Seite. Das eine Herz, das heißt mit leiblichem Futteral und Zubehör, war ein junger Student aus Hamburg, gutgelaunt und voller Einfälle. Er fand, wir würden jetzt eben einen kleinen Familienkreis ausmachen, und der sollte doch seine Mitglieder kennen. Nicht nach unseren Namen, sondern nach unserem Vaterland war gefragt; jeder wurde nach einem bekannten Mann oder einer bekannten Frau seines Landes getauft, und auf solche Art stellten wir einen Kreis berühmter Menschen dar. Ich hieß, als Däne, Thorvaldsen; mein Nachbar, ein junger Engländer, Shakespeare; der Student selbst konnte kein geringerer sein als Matthias Claudius. Doch mit unseren drei Gegenübern geriet er in einige Verlegenheit. Das eine war ein achtzehnjähriges Mädchen, das mit seinem Onkel, einem alten Apotheker aus Braunschweig, zusammen reiste. Der Student war schließlich gezwungen, sie »Fräulein Mumme« zu nennen, und ihren Onkel »Heinrich den Löwen«. Nur die letzte Passagierin, eine Frau aus Lüneburg, blieb vollkommen anonym, da wir in dieser - ansonsten sehr salzeinträglichen Stadt - keine berühmten Leute zu finden vermochten. Also wurde sie zum Stiefkind, und es schien, als wäre sie häufig so behandelt worden, denn sie lächelte mit einer ganz eigentümlichen Wehmut, als wir sie nicht mit einem Namen in die Gesellschaft aufnehmen konnten. Gerade das veranlaßte mich, sie genauer zu betrachten. Sie war um die fünfzig, hatte eine braune Haut und ein paar Pockennarben, doch lag in ihren dunklen Augen etwas tief Wehmütiges, auch wenn sie lächelte. Wir hörten, daß sie in Lüneburg junge Mädchen unterrichtete, dort in einem kleinen Haus ein stilles Leben führte, und nun zum erstenmal, aber nur für ein paar Tage, in Hamburg gewesen war.
Sonst hörte ich den ganzen Tag fast kein Wort von ihr [...]. Erst als wir in die engen Straßen von Lüneburg einrollten, wo die Häuser so klösterlich, so alt und spitzgieblig im Mondschein standen, hörte ich sie zum erstenmal sprechen: »Jetzt bin ich zu Hause!«
Wir stiegen aus dem Wagen, der alte Apotheker bot ihr den Arm, um sie zu ihrem Haus zu begleiten, das sich ganz in der Nähe befand. Wir andern gingen mit. Es war gegen elf Uhr, alles in dieser merkwürdigen alten Stadt, die mir so ganz fremd erschien, war still, spitzgieblige Häuser, Erker und Vorbauten ringsum im hellen Mondschein. Der Wächter ging mit einer großen Schnarre herum, schnarrte damit, sang darauf seinen Vers und schnarrte noch einmal. »Willkommen, Jungfer!« sagte er mitten im Lied, und sie nickte und nannte seinen Namen, während sie die hohe Steintreppe hinaufstieg - hier wohnte sie. Ich sah, wie sie sich zum Abschied verneigte und hinter der Tür verschwand.
Als dann der Postillon blies und wir wieder in den Wagen mußten, sah ich in ihrem Zimmer Licht. Ein Schatten glitt über die Gardine, sie war es, die uns am Fenster nachsah. Nun war die Reise, auf die sie sich vielleicht jahrelang gefreut hatte, für sie zu Ende; vielleicht ist dieser Ausflug einer der lichtesten Punkte in ihrem Leben, und sie wird ihn, später, noch viele Male in der Erinnerung genießen.[...] Morgen mußte sie vielleicht wieder mit dem Unterricht beginnen, die Kinder in les verbes réguliers abhören - »aimer, aimant, aim‚« - - - wie viele Erinnerungen können doch in so einem regelmäßigen Verbum liegen.
Wir verließen Lüneburg, ohne eine von seinen Besonderheiten gesehen zu haben, nicht einmal den Schinken des berühmten Schweins, das vor achthundert Jahren die Salzquellen entdeckte.
Außerhalb der Stadt sahen wir flüchtig das Salinenwerk und die Kalkbrüche, doch freilich in derselben Weise, wie Bürgers Lenore Städte und Felder im Mondschein vorüberfliegen sah.
Das eintönige Knirschen des Wagens im Sand, die Windstöße in den Zweigen und die Musikstücke des Postillons verschmolzen indessen zu einem einschläfernden Wiegenlied; ein Passagier nach dem anderen nickte mit dem Kopf, selbst unsere Blumensträuße, die wir in die Wagenfächer gesteckt hatten, machten bei jedem Stoß des Wagens dieselbe Bewegung. Ich schloß die Augen und öffnete sie wieder und träumte wohl im Halbschlaf.
Da fiel mir eine der Nelken, die ich mir in den Vierlanden gekauft hatte, besonders ins Auge. Alle Blumen dufteten kräftig, und doch schien mir, als würde diese Nelke all die andern an Duft und Farbe übertreffen, und was am kuriosesten war: mitten in ihrer Blüte saß ein kleines, luftiges Wesen, nicht größer als eins von ihren Blättern, und so durchsichtig wie Glas. Es war ihr Genius, denn in jeder Blume wohnt solch ein kleiner Geist. [...] Bald schwirrten denn auch hundert und aberhundert andere Elfen in ganz anderen Gewändern und Gestalten zum offenen Wagenfenster hinein. Sie kamen aus den dunklen Tannen und aus den Heideblumen. [...]
Ich sah hinaus auf die große Lüneburger Heide, von der man sagt, sie sei so häßlich. Herrgott, was die Leute reden! Ja, sie reden, wie sie sehen und zuhören. Jedes Sandkorn war ein schimmerndes Felsenstück; der lange Grashalm, der sich staubbedeckt über die breite Landstraße neigte, war für die kleinen Elfen der niedlichste makadamisierte Weg. [...] Die ganze große Heide war eine Zauberwelt, von Wunderwerken voll. Wie kunstreich war doch jedes Blütenblatt gewebt! Welche Fülle von Leben lag in dem grünen Tannensproß! Jedes Staubkorn hatte seine besondere Farbe und seine eigene Zusammensetzung, und welch eine Unendlichkeit im großen Himmel darüber! [...]
Als dann der Tau fiel, sah ich, wie sich die luftig-leichten Genien auf den großen Wassertropfen tummelten.[...] Mit einemmal spürte ich in der ganzen Luft eine zitternde Bewegung. Ich fuhr auf, und alles war verschwunden, nur die Blumen dufteten kräftig, und durch das Kutschenfenster neigten sich ein paar frische, grüne Birkenzweige. Es war Pfingstmorgen, und der Postillon hatte den ganzen Wagen mit Grün geschmückt. Der alte Apotheker streckte sich und sagte: »Man kann doch träumen hier!«
Die Sonne ging auf, alle waren wir stumm, ich glaube, wir hielten still unseren Kirchgang ab, während die Vögel ihre Pfingstlieder sangen und das Herz selbst uns die beste Morgenpredigt hielt.
Bei unserer Ankunft in Ülzen gingen die Leute zur Kirche. Die Sonne brannte wie Feuer; wir waren fast halbtot, als wir Gifhorn erreichten, und bis Braunschweig waren es noch vier Meilen. Ich fühlte mich so müde, daß ich kaum aus dem Wagen sehen mochte, als die Harzberge mit dem Brocken zu erkennen waren. Endlich waren wir am Ziel.
Anmerkungen
Weiteres zu Hans Christian Andersen - siehe unter »Harz« (denn »til Harzen« ging seine Postkutschenfahrt 1831 weiter).
Quelle
Hans Christian Andersen, Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die Sächsische Schweiz etc. etc. im Sommer 1831 (Skyggebilleder af en Reise til Harzen, det sachsiske Schweitz etc. etc. i Sommeren 1831)
Hrsg. u. Übers. Gisela Perlet
In: Die frühen Reisebücher
Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer, 1984, S. 158 - 167