Professor Lichtenberg schaut einer Königin beim Abendessen zu und wirkt sichtlich beeindruckt
- 1773 -
Auf der Durchreise in Celle
Ich habe die Königin von Dänemark speisen sehen und eine halbe Stunde, 2mal die Breite der Tafel, woran sie saß, gegen ihr über gestanden.
Brief an Heinrich Christian Boie, 19. Mai 1773
In Celle habe ich die Königin von Dänemark speisen sehen und habe fast eine halbe Stunde gegen ihr über gestanden. Es war dazu die beste Gelegenheit, wenn Sie speist, wird jedermann in den Saal gelassen, dazumal, wie ich da war, waren etwa 30 Zuschauer da, 26 Dienstmädchen und Handwerkspursche, zwo Bürgermädchen, ein Professor und sein Bedienter. Die Königin ist sehr stark und hat ein paar durchdringende Augen. Sie aß mit besserm Appetit als ich in 10 Jahren nicht gegessen habe, während als sie an den Speisen war, wozu sie den Löffel gebrauchte, lag sie mit dem linken Arm auf dem Tisch und hörte allem, was gesprochen wurde, mit großer Aufmerksamkeit zu, indem sie allemal das Gesicht gegen die sprechende Person mit einer horchenden Miene kehrte. Sie lachte ein paarmal recht herzlich, sonst war sie mehr stille, wozu der schon erwähnte gesunde Appetit das seine beigetragen haben mag. Sie saß mit aufgesetztem Kopf und bloßem Hals, um den sie einen sehr simpeln Halsschmuck hatte, an welchem aber an diesem Tage etwas versehen sein mußte, denn sie hatte öfters etwas daran zu schaffen. Ihr Anzug war von dünner blauer Seide. Die ganze Tafel bestund aus 10 Personen, worunter zwei Mannspersonen waren. Auf dem Walle in Celle hat sie zwei Zelten aufschlagen lassen, worunter sie frühstückt; am Tage, wenn es das Wetter erlaubt, geht sie durch die Straßen der Stadt spazieren und gibt den Kindern öfters die Hand. Sie hat eine ungemeine Liebe da und verdient sie gewiß.
Brief an Marie Tietermann, 19. Mai 1773
Heute will ich Sie einmal ein wenig in den Speisesaal der Königin von Dänemark zu Celle gucken lassen. Am 12. Mai um halb 8 des Abends langte ich äußerst ermüdet, ob ich gleich nur 5 Meilen gereiset war, in Celle an. Die Ursache war, ich hatte die Nacht vorher keine Stunde geschlafen. Von Hannover reisete ich in der Hoffnung ab, in Celle wenigstens bis um 4 schlafen zu können, weil die Kutsche nach dem Kalender alsdann erst wieder fort geht. Allein, Madam, trauen Sie keinem Kalender, Ihr Mann müßte ihn denn gedruckt haben, der verdammte Kerl hatte sich um 4 Stunden verrechnet, und die Kutsche ging um 12 ab. Ich ließ mich in das beste Wirtshaus bringen mit dem festen Entschluß, daß meine Augen dafür, daß sie diese Nacht wieder offen stehen mußten, auch etwas sehen sollten. Das erste, was sie zum besten bekamen, war ein eingelegter polierter Fußboden, auf dem ich fast in demselben Augenblick schon gesessen hätte, in welchem ich ihn erblickte. Zum Glück glitschte ich noch wider ein mitleidiges Dienstmädchen, die den Fall brach. Hierauf trippelte ich nach einem bepolsterten Armsessel hin, dem ich nunmehr aus eignem Entschluß den Teil meines Körpers zukommen ließ, den sich der Fußboden vorher wider meinen Willen anmaßen wollte. Hier saß nun der Professor in Celle. Damals wußte er es freilich noch nicht gewiß, nachher erfuhr er aber aus einem gewissen Umstand, daß der Postillon ein ehrlicher Kerl gewesen war und ihn nicht etwa in Hildesheim oder Langenhagen oder in Neustadt am Rübenberg oder in Wunstorf (denn alle diese Örter hätten es sein können) abgesetzt hatte. Am Tor hatte uns zwar ein Unteroffizier gefragt, wer wir wären, allein keiner von den 5 Köpfen, den meinigen mitgerechnet, die in der Kutsche waren, hatte so viel Vorsicht wider zu fragen, ob dieses Celle wäre. Ja was die Sache noch mehr verwirrte und würklich machte, daß ich in Gedanken mein rechtes Bein über den rechten Arm des Sessels schlug, welches ich gewöhnlich tue wenn ich Gründe abwäge, war dieses, daß ich auf dem Posthause zu Hannover mit keiner Silbe gesagt hatte, daß ich nach Celle wollte. Sondern 4 Tage vorher hatte ich meinem Bedienten befohlen, mir einen Platz zu bestellen, und dieser hatte die Ordre wieder an den Hausknecht indossiert. Aus dieser Verlegenheit setzte mich auf einmal der Wirt, den ich gradeweg fragte: kann ich die Königin von Dänemark speisen sehen; in der Tat nahm ich an, was ich eigentlich erst wissen wollte, nämlich, daß ich in Celle wäre. O ja, versetzte der Wirt, gleich hier hinten.
Ich: Ist das Schloß weit von hier?
Der Wirt: Verzeihen Sie, nur einen Schritt.
(Im Hingehen habe ich die Schritte gezählt, es waren grade 382). [...]
Ich: Um wieviel Uhr speist die Königin?
Der Wirt: Um neun, mein Herr.
Ich: Und wenn werde ich speisen?
Der Wirt: Gleich, wenn Sie befehlen (Er wollte mit einem gebundenen Lächeln abgehen, weil er den Kontrast zwischen meinem Tisch und der Tafel der Königin anschauender erkennen mogte als ich, der Passagier, der weder den Zustand der Küche der Königin noch des Wirts kannte)
Er war schon beinah hinaus, als ich ihn mit einem Apropos wieder zurückzog.
Ich: Apropos, Herr Wirt, Sie müssen mir jemanden mitgeben, der mir den Speisesaal zeigt.
Der Wirt: O zu dienen, mein Hausknecht soll Sie hinbringen.
Er hatte dieses kaum gesagt, so war er schon so weit, daß er durch kein Apropos mehr erreicht werden konnte. Mein Essen, das bald darauf erschien, war reinlich und wohlschmeckend und mein Appetit verhältnismäßig gut, so daß damals eine Vergleichung zwischen dem Dänischen Thron und meinem Cellischen Armsessel vermutlich sehr zum Nachteil des ersteren ausgefallen sein würde. Um 9 Uhr kam mein Führer. Ich trabte ohne ein Wort zu sprechen, denn in der Tat zählte ich die Schritte, hinter ihm her. An der Treppe, die sehr erleuchtet war, dachte ich bei mir selbst: Professor, was für seltsame Konjunkturen hat Dich nicht Dein Schicksal aufbehalten. In England stellte Dich ein König einem Glasschleifer vor, der armseliger als dieser Knecht da stund, und nun führt Dich ein Hausknecht vor eine Königin, die unter allen jetzt lebenden die größten Artikel in der Geschichte bekommen wird. Nun stund ich vor dem Speisesaal, dessen Türe halb offen und von drei Soldaten bewacht war. Weil ich anfangs keine Zuschauer sah, so wollte ich nicht hinein. Gehen Sie nur zu, sagte der Hausknecht. Gehen Sie nur getrost hinein, sagte eine Schildwache, es sind schon mehr Leute drin. So sei es denn, dachte ich, zupfte noch einmal an meiner Weste und Halsbinde und marschierte hinein.
Brief an Christiane Dieterich, 20. Mai 1773
Und sowie ich in den Speisesaal hineintrat, war ein schicklicher Platz zum Observieren das erste worauf ich dachte. Nach einer Wahl von etlichen Augenblicken kam es zum Schluß, ich stund, und die Beobachtungen nahmen ihren Anfang. Ich hatte mich, wie ich erst nach der Hand gehörig einsah, herrlich postiert. Zur Rechten etwas vor mir, doch so, daß wir einander mit den Rockfalten berührten, stund ein Mädchen, welcher ich mit meinen Augen fast an die Nase reichte, und ich konnte frei über ihre linke Achsel weg die Tafel mit meinen Augen bestreichen; wollte ich frei stehen, so schob ich nur meinen rechten Arm an ihrem linken Arm (ohne die Rockfalte zu berühren, welchen mutwilligen Gedanken ich mir ernstlich hiermit verbitte) vorbei, so stund ich voran; grad umgekehrt verfuhr ich, wenn ich wieder bedeckt sein wollte. Zur Linken stund mir ein Tölpel von 6 Fußen, dem ich mit meinem Scheitel, ich meine den, welchen mir der Perückenmacher in Hannover aufgesetzt hatte, an den dritten Westenknopf, von oben gerechnet, reichte. Hinter diesen, dachte ich, willst du dich zurückziehen, wenn du ganz versteckt sein willst, und überhaupt hinter diesem Kerl bist du wie zu Haus. Dort die dicke Dame, grade gegen uns über, in dem blauen Kleide ist die Königin, sagte der Hausknecht, indem sein Zeigefinger seinen Weg nach der Königin durch meine rechte Locke nahm, daß ich fast böse geworden wäre: Halt er das Maul, ich sehe sie schon lange, antwortete ich bloß mit einem kurzen Schütteln des Kopfes, das sich in Nicken endigte. Der Kerl, ob er gleich nichts als ein bloßer Hausknecht war, verstund diese Sprache und überließ mich von der Stunde an meiner eignen Führung.
Die Tafel, woran gespeist wurde, war ein länglichtes Viereck. Die Königin saß an einer langen Seite, in der Mitte zwischen zwo Damen; gegen ihr über eine Dame zwischen zween Chapeaux, und an jeder schmalen Seite noch zwo Damen. Die speisende Gesellschaft bestund also aus einer Königin, sieben Damen und zween Cavaliers. Die Reihe war nicht bunt an der Tafel und konnte es nicht sein, hingegen bei uns (den Zuschauern) war sie es desto mehr, man hätte allemal einen Kavalier auf eine Dame rechnen können, oder eigentlich zu reden, auf jedes Dienstmädchen einen Handwerkspurschen oder Hausknecht. Die Königin war ziemlich hoch und mit Geschmack frisiert und hatte um den Hals, der übrigens konventionsmäßig bloß war, einen sehr simpeln Schmuck und war, wie Sie schon von dem Hausknecht gehört haben, in blaue Seide leicht gekleidet. Um ihre Arme, die von sündlicher Schönheit sind, hatte sie ebenfalls etwas gebunden. An dem Halsschmuck muß an dem Tage etwas versehen worden sein, denn die eine Hand war öfters bemüht, in jener Gegend etwas zu redressieren, schien aber nichts ausrichten zu können. Sobald sie bei dem Essen eine Hand entbehren konnte, so lehnte sie sich mit vielem Anstand mit dem einen Arm auf den Tisch und aß mit der Rechten allein. Sie war, ohne selbst viel zu reden, sehr aufmerksam auf alles, was geredet wurde, und hielt den Kopf allemal in einer horchenden Stellung gegen die sprechende Person. Sie lächelte öfters und lachte einmal ganz laut, wobei sie die ganze Tischgesellschaft und auch uns ansah. Wir Knechte und Mägde lachten auch mit, ich, indem ich mich hinter den Tölpel zurückzog; denn weil ich mich dabei etwas schämte, so war mir das Mädchen zum Schutz nicht groß genug. Ich hatte von dem Spaß kein Wort verstanden, ob ich gleich sonst Späße auf Französisch verstehe. So viel habe ich aber noch kurz vor der Retirade hinter den Kerl bemerkt, daß der Einfall, über den gelacht worden war, von einer der Damen an der schmalen Seite hergerührt hatte. Die Chapeaux schienen ihn sehr zu approbieren. Übrigens war die Dame von den Jahren, wo der Einfall schon sehr gut sein muß, wenn ein Kavalier darüber lachen soll, nämlich bei 8 Wachslichtern geschätzt 56, also vermutlich 60 Jahr.
Die Königin ist wahrscheinlicher Weise, denn stehen habe ich sie nicht gesehen, nicht sehr groß, allein stark von Person. Ihre Gesichtsfarbe ist gesund, meliert, aber doch mehr weiß als rot. Ihre Augen zwar nicht lebhaft, aber durchdringend und verraten Nachdruck, Feuer und Geist. Der Heroismus, den sie bei ihrer Arretierung bewies (denn sie kriegte den Offizier, der ihr den Arrest ankündigte, beim Schopf zu fassen), ist in ihrem Gesicht, wiewohl mit sehr viel weiblicher Sanftmut verwaschen, ausgedrückt. Auf dem Wall hat sie zwei Zelten aufschlagen lassen, unter welchen sie frühstückt und des Abends Tee trinkt.
Brief an Christiane Dieterich, 28. Juni 1773
Die Königin von Dänemark habe ich in Celle speisen sehen und über eine halbe Stunde nur 3 Schritte von ihr gegenüber gestanden. Der lieben Schwester zu gefallen, weil sie, wie ich weiß, diese Neuigkeiten interessieren, füge ich eine kleine Beschreibung mit aller Aufrichtigkeit eines philosophischen, unparteiischen Bruders bei. Die Königin ist nicht sehr groß, dabei recht, was man ausgestopft nennt, alles ist dick, doch ohne in das schmalzigte Forstmeistermäßige zu fallen. Ihre Miene ist nicht ganz frei, und aus ihren Augen leuchtet, zumal sobald sie aufhört zu lächeln, etwas Trotziges bei vielem Feuer hervor. Ihre Gesichtsfarbe ist gesund aber mehr blaß als rot, und ihr Gesicht überhaupt nicht was man schön nennt. Man sieht ihr, meiner Meinung nach, Mut und Entschlossenheit an, der sich auch würklich bei ihrer Arretierung gezeigt hat. Sie aß mit großem Appetit und hörte dem was gesprochen wurde mit vieler Aufmerksamkeit zu, ohne selbst viel zu sprechen. Wenn sie nur eine Hand bei dem Essen brauchte, so legte sie sich ganz nachlässig mit dem andern Arm über den Tisch. Sie lachte einmal ganz laut, über etwas das eine alte Dame auf französisch sagte. Ich habe es nicht verstanden, ob ich sonst gleich Späße und Französisch verstehe. Sie war sehr simpel in einen himmelblauen seidenen Schlender gekleidet und nur mittelmäßig hoch aufgesetzt. Sie hatte die ganze Zeit etwas mit ihrem Halsschmuck zu schaffen. Was dort versehen gewesen sein mag, habe ich nicht entdecken können.
Brief an den Bruder Friedrich Christian Lichtenberg, 13. August 1773
Anmerkungen
Bei der »Königin von Dänemark« handelt es sich um Karoline Mathilde, die 1751 geborene Enkelin Georgs II., des Königs von Großbritannien und Kurfürsten von Hannover. Sie hatte 15jährig den dänischen König Christian VII. geheiratet. Weil man ihr eine Liebesaffäre mit dem königlichen Leibarzt und Reformpolitiker Graf Struensee nachsagte (die sie eingestand, um Struensees Leben zu retten), wurde sie verhaftet. Struensee wurde gleichwohl hingerichtet, und Karoline Mathilde entging einer Verurteilung nur, weil ihr Bruder, der britische König Georg III., Druck machte. Ihre Ehe wurde geschieden, sie selber nach Celle verbracht, wo sie 1775, zwei Jahre nach Lichtenbergs Besuch, im Alter von 24 Jahren starb - an dänischem Gift, wie die zeitgenössische Legende wissen wollte (an die übrigens auch Lichtenberg geglaubt hat). 1773 hatte Lichtenberg in Celle Station gemacht, als er auf seiner Dienstreise nach Stade war, wo er (genau wie zuvor in Hannover und Osnabrück) im Auftrag des hannoverschen Kurfürsten die astronomische Ortsbestimmung vornehmen sollte.
Quelle
Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe (Hrsg. Wolfgang Promies), München : Hanser, 1967, Bd. 4, Briefe, S. 129 - 165.