Nun auch etwas von Stade
- 1773 -
Brief an Marie Tietermann
Stade, den 19ten Mai 1773
Vergangene Nacht in der Stunde, wo außer Gespenstern nur Reisende, Kranke und Verliebte allein noch wachen, bin ich von Hamburg hier gesund angelangt. Ich fuhr um drei Uhr von Hamburg auf einem zweimastigen Schiff ab, unsere Fahrt wurde durch die Jahrszeit, den ganz eignen Reiz der Gegend und das schöne Wetter eine der herrlichsten Wasserfahrten die sich nur gedenken lassen. Um halb 8 des Abends lagen wir schon der Stadt gegenüber, allein wir konnten wegen der Ebbe nicht einlaufen, und um wieder einigen Anlauf des Wassers zu haben, warteten wir die Gespenster-Stunde herbei. In Hamburg habe ich mich fünftehalb Tage aufgehalten. Was ich da gesehen und für Vergnügen genossen habe, läßt sich besser erzählen als schreiben. Alles Vergnügen, was die größte Mannichfaltigkeit schöner Gegenstände, als die schönsten Gärten in voller Blüte, die unabsehbare Menge von Schiffen aller Nationen, gute Gesellschaft, guter Wein und eine gute Tafel gewähren kann, habe ich diese wenigen Tage, die ich, einige andere ausgenommen, unter die schönsten meines Lebens rechne, genossen. Mehr kann ich jetzt nicht sagen, vielleicht wird eine weitere Ausführung der Gegenstand künftiger Briefe oder gar, welches der Himmel geben wolle, künftiger Unterredungen mit Ihnen, werteste Freundin. [...]
Brief an Joel Paul Kaltenhofer
Stade, den 14. Juli 1773
[...] Hamburg, wo ich mich 4 « Tage aufgehalten, ist ein höchst angenehmer Ort, sehr geschickt sich eine ziemlich vollständige Idee von den Häfen von Amsterdam und London zu machen. Ich logierte in einem Wirtshaus, wo einen in den andern gerechnet alle Sekunde ein Mensch vorbei ging, also alle Stunde 3 660 Menschen mit allerlei Gesichtern, Figuren, Absichten. Von Hamburg bis hieher sind, wie man um und bei Göttingen unterschiedlich glaubt, 7 Meilen, in Hannover wird es für 6 gehalten, es sind aber eigentlich nur 5, wenn man den nächsten Weg (zu Wasser) rechnet. Diesen habe ich in 5 Stunden bei sehr günstigem Wind und Hülfe der Ebbe auf einem 2mastigen Schiff zurückgelegt. Ich habe in diesen 5 Stunden, glaube ich, 6 Pfeifen Tabak geraucht und dabei englisches Bier getrunken, wozu ich meinen Schiffer einlud, der darüber so treuherzig wurde, daß er drei Kanonenschüsse tat, wir wurden von der Stader Schanze bei wehender Flagge wieder mit einem Schuß begrüßt, den wir auch mit einem Erkenntlichkeits-Schuß erwiderten. Was das für ein Vergnügen war, auf einem eine Meile breiten Strom, auf dem Schiffe hier und da von allerlei Nationen lagen, die mit der vorhergehenden Flut Hamburg nicht hatten erreichen könne, ist nicht zu beschreiben. Wenn ich doch ein einzigesmal eine solche Reise mit Ihnen tun könnte, Sie müßten mir aber nicht seekrank werden, denn das kann man, wenn man anders nicht über Wörter streiten will, auf der Elbe schon sehr gut werden. Stade hat mir bisher noch nicht recht gefallen, der Wall ist ein außerordentlich angenehmer Spaziergang hier, wogegen der Göttingische gar nicht kann in Vergleichung kommen, mein gewöhnlicher Spaziergang geht nach der Elbe. Sie wäre ganz nah, wenn man grad hinkommen könnte. Ein Lichtstrahl, der von dem Ufer der Elbe nach dem Stader Tore geht, ist nicht länger als etwa einer, der von der Maschmühle nach dem Weender Tore fährt, allein man kann dem Lichtstrahl leider nicht nachgehen, sondern ehe man an den obengenannten leuchtenden Punkt über dem Elbe-Ufer kommt, durchkreuzt man Strahlen dieses Punkts, die wenigstens eine halbe Viertelmeile an Stade vorbeifahren. Ich meine eigentlich, man kann nur durch Umwege hinkommen, so daß ich es fast für weiter halte als von Göttingen nach der Papiermühle.
Unten steht ein Wirtshaus, wo ich mich am vorigen Donnerstag von morgends 8 bis abends halb 9 aufgehalten habe, ich hatte meine Tubos und ein Buch bei mir und habe einmal mit bloßen Augen 16 Schiffe zählen können, die alle mit vollen Segeln vorbei fuhren; ich habe wohl 100mal an Sie gedacht. Ebbe und Flut habe ich unter meinem Fenster. Wenn Aristoteles, der sich doch, weil er dieses Phänomen nicht erklären konnte, ersäuft haben soll, da gewohnt hätte, wo ich jetzt sitze und schreibe, so hätte er seine Absicht, das Ersäufen meine ich, grade aus dem Fenster erreichen können. Jetzt eben ist es beinah Ebbe, und Hunde, Kühe und Betteljungen gehen jetzt trocknen Fußes, wie die Kinder Israel durchs rote Meer, durch diese Bucht der Schwinge (so heißt der hiesige Strom) woran ich jetzt wohne, da wo in etwa 6 Stunden ein Reuter mit seinem Pferde ersaufen könnte. Es ist ohnstreitig ein reizender Anblick für einen Mittelländer, wie Sie und ich sind. Vor 14 Tagen habe ich ein dreimastiges Schiff von einer niedlichen Struktur allhier unter Kanonen, Pauken und Trompeten-Schall und unter dem Freudengeschrei von mehr als 2 000 Menschen vom Stapel laufen sehen. Auch ein Anblick, den ich in diesem Jammertal der Zeitlichkeit noch nicht gehabt habe. [...]
Brief an den Bruder Friedrich Christian Lichtenberg
Stade, den 13. August 1773
[...] Nun auch etwas von Stade, wo ich nun schon 12 Wochen lebe und noch vielleicht 8 leben werde. Der Ort ist kleiner als Darmstadt und wird von einer groben und abergläubischen Nation bewohnt. Die meisten glauben im Ernst, ich sei vom König hieher geschickt, wegen der vielen nassen Jahre mit der Erdkugel eine kleine Veränderung vorzunehmen, und daß die Geister des Nachts zu mir kämen, welches mich hier in einen solchen Ruf bringt, daß ich das Gespräch der Stadt und des ganzen Landes umher bin.
Die Stadt liegt etwa so weit von der Elbe als Bessungen von Darmstadt. Es führt ein angenehmer Spaziergang dahin und wenn man nicht gehen will, so kann man auch zu Wasser für 1 guten Groschen in einem niedlichen Boot hin kommen. Die Elbe ist da eine Meile breit und beständig voller Schiffe von allerlei Nationen, die nach Hamburg oder von da zurück in die See gehen. Gegenüber sieht man die fruchtbare Küste von dem Dänischen Holstein. Nach Hamburg komme ich alle Tage für 4 gute Groschen wenn ich will. Ich habe mich da neulich 4½ Tage aufgehalten und muß zur Ehre unseres seligen Vetters Eckhardts bekennen, daß ich nicht geglaubt habe, daß in Deutschland ein Ort wäre, wo man sich eine so vollständige Idee von dem, was London und Amsterdam Großes haben, machen könnte, als diese Stadt. Am Hafen liegt ein Gebäude, das das Baumhaus genannt wird, mit einer Galerie oben auf dem Dache, worauf zuverlässig einer der schönsten Prospekte in Deutschland nach dem einstimmigen Zeugnis aller Reisenden ist. [...]
Anmerkungen
Lichtenberg hielt sich im Frühjahr und Sommer 1773 in Stade auf, um dort - im Auftrag des hannoverschen Kurfürsten und Königs von Großbritannien - eine astronomische Ortsbestimmung vorzunehmen. Aber offenbar gefiel ihm an Stade am besten die Nähe zu Hamburg. Marie Tietermann, die Haushälterin im Osnabrücker Gasthof »Zum römischen Kaiser«, hatte er im Jahr zuvor kennengelernt, als er mit gleichem Vermessungsauftrag in Osnabrück tätig war. Joel Paul Kaltenhofer war der Universitätszeichenlehrer in Göttingen.
Quelle
Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe (Hrsg. Wolfgang Promies), München, Hanser, 1967, Bd. 4, S. 129 - 162.