Lebenspflichten

Autor

Autorenportrait: Ludwig Christoph Heinrich Hölty

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Das Höltydenkmal von 1901 auf dem Nikolaifriedhof Hannover

 

- 1776 -

Lebenspflichten


Rosen auf den Weg gestreut,
     Und des Harms vergeßen!
Eine kleine Spanne Zeit
     Ward uns zugemeßen.

Heute hüpft, im Frühlingstanz,
     Noch der frohe Knabe;
Morgen weht der Todtenkranz
     Schon auf seinem Grabe.

Wonne führt die junge Braut
     Heute zum Altare;
Eh die Abendwolke thaut,
     Ruht sie auf der Bahre.

Ungewißer, kurzer Daur
     Ist dieß Erdeleben;
Und zur Freude, nicht zur Traur,
     Uns von Gott gegeben.

Gebet Harm und Grillenfang,
     Gebet ihn den Winden;
Ruht, bey frohem Becherklang,
     Unter grünen Linden.

Laßet keine Nachtigall
    Unbehorcht verstummen;
Keine Bien', im Frühlingsthal,
    Unbelauschet summen.

Fühlt, so lang es Gott erlaubt,
    Kuß und süße Trauben,
Bis der Tod, der alles raubt,
     Kommt, sie euch zu rauben.

Unser schlummerndes Gebein,
     In die Gruft gesäet,
Fühlet nicht den Rosenhayn,
    Der das Grab umwehet.

Fühlet nicht den Wonneklang
     Angestoßner Becher;
Nicht den frohen Rundgesang
     Weingelehrter Zecher.

 

Anmerkungen

 

Dieses bis ins 20. Jahrhundert äußerst populäre Gedicht schrieb Hölty in seinem Todesjahr 1776. Der Dichter hatte nicht nur als Jugendlicher eine schwere Pockenerkrankung durchgemacht, sondern litt seit 1775 an offener, damals unheilbarer, Lungentuberkulose. Er starb im 28. Lebensjahr. Ein Umstand, der seinen Aufruf, das Leben zu geniessen - ja, sogar die Lebensfreude zur Lebenspflicht zu erklären -, besonders ergreifend macht. In Höltys Gedicht "Lebenspflichten" zeichnet sich noch einmal die ganze Fülle typisch späbarocker Sinnlichkeit im Angesicht der Vergänglichkeit ab.

Die erste Zeile der "Lebenspflichten" verwendete Kurt Tucholsky 1931 als Titel für sein bitteres, sarkastisches Gedicht über die Unverhältnismäßigkeit der Mittel und die Unterwürfigkeit der zivilen Gesellschaft im Umgang mit den Faschisten, das nicht nur als Zeitdokument gelten kann, sondern ein heute noch aktueller Kommentar zum Thema Populismus ist. "(...) Wenn sie in ihren Sälen hetzen, / sagt: »Ja und Amen – aber gern! / Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!« / Und prügeln sie, so lobt den Herrn. /(...)" Entlehnt hat Tucholsky jedoch nur der Beginn des Hölty-Gedichts: "Rosen auf den Weg gestreut...", der gerne romantisierend, leicht sinnverfälschend zitiert wird. Tucholskys Gedicht wurde von Hans Eisler vertont.

 

Quelle

 

Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Gesammelte Werke und Briefe; Hg: Walter Hettche. - Kritische Studienausgabe, Göttingen, Wallstein Verlag 1998