Landleben in Ritzebüttel

Autor

Autorenportrait: Barthold Hinrich Brockes

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Barthold Hinrich Brockes, Portrait von Dominicus van der Smissen

 

- 1741 -

Anfang des Winters

mit dem herannahenden Alter verglichen

Im Winter, wenn ich mit Vergnügen
Den noch nicht dick gefallnen Schnee
Nur dünn auf flachen Äckern liegen,
Sie decken und nicht decken seh,
Indem der Furchen Tiefen nur
Vom Schaum der Luft die weiße Spur
Uns in geraden Strichen zeigen,
Und daß wir die erhabnen Höhn,
Als ob sie aus den Tiefen steigen,
In einem braunen Schmuck noch sehn;
So kommt der ganze Acker mir
In einer sprenklig-grauen Zier,
Als wie bei uns ein sprenkligt Haar
Bei noch nicht vollem Alter für.
Man wird nur einzeln hier und dar
Ein glänzend Silberhaar gewahr,
Das noch die braunen unterdrücken.
Ob sie nun gleich die Scheitel schmücken,
Ist doch in der noch seltnen Pracht
(Wie hier des Winters kalte Nacht)
Das nahe Alter zu erblicken.
Doch schrecket beides mein Gesicht,
Da ich auf meines Scheitels Höhe
Auch schon dergleichen Schimmer sehe,
Mich, durch die Furcht vors Künftge, nicht.
Ich seh, gottlob!, auch hier die Spur
Der weisen Ordnung der Natur
Und denke, wenn die Felder weiß
Und unser Haupt-Schmuck völlig greis,
Daß wir dem Lenzen näher kommen,
Hier einem, der veränderlich,
Dort aber einem, welcher sich
Nicht ändert, der uns nie entnommen.

Ich seh indes, solang ich kann,
Des frühen Winters sanftes Prangen,
Das sich nur eben angefangen,
Als einen holden Vorwurf an:
Vergnüge mich nicht nur allein
An seinem silbergleichen Schein,
Ich denk auch, daß sein gleiches Bild,
So mir bereits mein Haupt erfüllt,
Mir, wenn ich nur vernünftig lebe,
Mehr Anmut noch als Schrecken gebe.

Da ich dort Gottes Ordnung sehe
Im frohen Wechsel unsrer Zeit;
So seh ich hier der Ewigkeit
Beglückten Frühling in der Nähe,
Den unsers Schöpfers Liebe fest
Nach meiner kurzen Tage Rest
Voll Zuversicht mich hoffen läßt.
Mich kränkt dabei kein Zweifel mehr,
Da Gottes Ordnung feste stehet:
Denn hier sowohl als dorten gehet
Der Winter vor dem Frühling her.

 

Anmerkungen

 

Aus »Niedersachsen« stammen diese lyrischen Natur-Reflexionen nur im landschaftlich-regionalen Sinne: denn das »Amt Ritzebüttel«, dem Barthold Hinrich Brockes von 1735 bis 1741 vorstand, gehörte damals zu Hamburg. Inzwischen zählt Ritzebüttel, als Stadtteil Cuxhavens, aber zum Bundesland Niedersachsen, und so sind uns auch die sprachkundig betrachtsamen, vernünftig religiösen Verse, in denen der einstige Amtmann sein »Landleben in Ritzebüttel« dokumentierte, gewissermaßen als Erbe zugefallen; interessanterweise publizierte der hamburgische Dichter aber schon zu seinen Lebzeiten (sie währten von 1680 bis 1747) für eine Sammlung, die den Titel trug »Poesie der Niedersachsen«. Barthold Hinrich Brockes (gesprochen mit langem »o«, das »c« in seinem Namen ist das berühmte norddeutsche Dehnungs-»c«), der Namenspatron der Ortschaft Brockeswalde, kehrte 1741 nach Hamburg zurück. Der poetische Ertrag seiner Amtmannsjahre, eben sein »Landleben in Ritzebüttel«, erschien 1743 als Band VII seiner großen Gedichtsammlung »Irdisches Vergnügen in Gott«.

 

Quelle

 

Barthold Hinrich Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott (Hrsg. Adalbert Elschenbroich), Stuttgart : Reclam, 1963, S. 73ff