Wo der deutsche Laut am reinsten und richtigsten gesprochen wird
Aus: Jäö, Studienblätter von Théodore le Singe
»Théodore«, sagte mein seliger Vater zu mir, als ich zwanzig Jahre alt geworden war, »du hast nun, mein lieber Sohn, alles empfangen, was die französche Erziehung einem jungen Manne auf seinen Lebensweg mitzugeben vermag. Der Hauptteil deiner Bildung aber steht noch aus. Der furchtbare Krieg hat den Völkern Wunden geschlagen. Alle Brücken scheinen zerstört zu sein. Ich aber möchte wohl gern für mein bescheiden Teil an der Verbrüderung aller guten europäischen Menschen mitarbeiten dürfen. Kein zweites Bündnis aber scheint mir so wichtig, wie das der Deutschen und Franzosen. Diese beiden Volksseelen glauben heute einander zu hassen. Welch ein Gewinn, wenn sie sich lieben lernen. Darum, Théodore, werde ich dich nach Deutschland schicken. Und damit du das Wesen deutscher Volkheit und den Träger ihres Geistes, die deutsche Sprache, quellfrisch aus ihrem Mutterborne schöpfen kannst, schicke ich dich ins Herz Deutschlands, in jene schöne Stadt, wo der deutsche Laut am reinsten und richtigsten gesprochen wird. Nach Hannover schicke ich dich! Dort wirst du dich zum Kerne der Volksseele durcharbeiten. Denn es ist allbekannt, daß die lernbegierige Jugend aller Länder, wenn sie das reinste Deutsch erlernen will, in dieser wohlgeordneten und geistig regen Stadt zusammenströmt.[...]« Ich gab meinem lieben Vater Kuß und Handschlag, und unter heißen Tränen fuhr ich gen Hannover.
Alte tüchtige treue Stadt! Welche Überraschung schenktest du mir. Ich kam, um die Normal-Schule der deutschen Sprache durchzumachen. Und fand eine Sprache, wesensecht, lebensfrisch, volkhaft, wie keine zweite in Europa. Wir kennen in den südlichen Ländern dreierlei Volksart. Wir unterscheiden alle Menschen romanischer Zunge nach ihrer Aussprache des Ja. Das Italienische nennen wir langue de si. Das Französische nennen wir langue d’oui. Das Spanische nennen wir langue d’oc. Nun habe ich auch in Deutschland einen Volksstamm entdeckt, der anders »Ja« sagt als alle andern. Es ist ein noch unerforschtes Land. Daher ist es schwierig, seine Sprachgewohnheiten zu verstehen. Für andere deutsche Mundarten gibt es festgelegte Schreibweisen und Überlieferungen. Für die stadthannöversche aber müssen wir die Überlieferung erst schaffen, und oftmals ist es schwer, ja vielleicht unmöglich, die Klänge des gehörten Wortes auch im Schriftbilde wiederzugeben. Damit aber auch der nichthannöversche Leser alles richtig verstehe, schicke ich einige Regeln voraus.
Das a spricht der Hannoveraner meistens wie äö (Jäö). Nur kurzes a wird nahezu rein gesprochen (z.B. Gu’n Tâch = guten Tag; mâchste ässen = magst du essen?). Das aa schwebt in der Mitte zwischen ää und öö. Ich schreibe daher z.B. aan päör Häöre = ein paar Haare, Äöle = Aale. Das ei klingt wie aa (Ba’er Laane liecht ‘er Laanekanäöl = bei der Leine liegt der Leinekanal). Das e ist wie ä; wird aber oft sehr gedehnt (Schwäärt, Pfäärd). Schwierig ist die Wiedergabe von ei bei nachfolgendem ch und sch. Man benötigte dazu eines Schriftzeichens ähnlich dem untergeschriebenen Jota der alten Griechen. Ich deute die Sprechweise an, indem ich schreibe statt leicht laaicht, statt Eiche Aaiche, statt kreischen kraaischen. Das s vor Konsonanten wird scharf geßprochen. [...]
Ich habe zusammenfassend einige Regeln aufnotiert. Hier sind sie: Den Pluralis bildet der Hannoveraner bei den meisten Wörtern durch Anhängen eines s. Zum Beispiel: das Mädchen, die Mächens; die Däöme, die Däömens; der Schuster, die Schusters; der Frisör, die Frisörs; der Park, die Parks (statt Parke); der Frack, die Fracks (statt Fräcke); die Bestecks, Vierecks, Gedecks und Kerls, sogar: die Betts (statt Betten). – Der Genetiv von Mensch heißt Menschens. Zum Beispiel: Menschenskind! – Es heißt nicht derjenige welcher, sondern derjenigte welcherer. – Beliebt sind eingeschobenen r, wie: Karnallje, Kortellette, Karstanje. – »Jetzt« spricht man wie Getz. – Es heißt nicht: »Der Stern blinkte schön«, sondern: der Stern hat schön geblunken. – [...] Man sagt: die Tör is auf. Beileibe nicht: die Tür ist offen. – Man sagt: Piepenbrinks wohnen dichte baar, anstatt wohnen dicht daneben. – Gern gebraucht man »all« für schon. Zum Beispiel: Er is all daö. – Alle dagegen ist so viel wie: zu Ende. Daher: das Geld is all alle. Oder das Geld is all flötjen. – Auch das Adverbium »ganz« kann Stelle von »alle« treten. »Die ganzen Kinder häoben Ferien.« – – – Das Geschlecht ist sehr unregelmäßig. Man sagt der Sophäö, aber das Schrank, das Sstuhl, das Zucker. Manche Substantiva haben Nebenformen. Zum Beispiel: die Längte, die Dickte, die Wärmte. – Ich frage vergebens: Heißt es zeichnen oder zeichen, regnen oder regen, rechnen oder rechen? Man sagt Zaaichenbuch und meint ein Buch zum zeichnen. Man sagt: Rechen Sie das mäöl aus. Man sagt: Guck mäöl, es regent. – Sehr schön sind Konjunktive wie: nähmte von nehmen, gäbte von geben. – Die Steigerung von oft heißt öfterer. »Sie müssen mich öfterer besuchen«. Die Steigerung von ›dran sein‹ heißt: dranner; der Superlativ: am dransten.
Quelle
[Theodor Lessing], Jäö. Studienblätter von Théodore le Singe. Hannover: Gersbach, o.J.
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