Theater nach 1945
- 1947 -
Das Theater der Vereinigten Staaten hat das große Glück, daß es mit der Phantasie eines gesunden, kräftigen Volkes schaltet, dessen Land von den Verwüstungen des Krieges unberührt geblieben ist, daß es die Anregungen des europäischen Theaters verarbeiten kann und Dekadenzerscheinungen die Kraft und Natur einer frischen Jugend entgegenzusetzen hat, die die Erschlaffungen und Ermüdungen des europäischen Dramas überwindet und in Laune und unbedenkliches Spiel überträgt. Auf der anderen Seite sind seine Dichter und Schauspieler durch den Krieg und die Teilnahme an ihm den Ereignissen doch so nahe gekommen, daß sie die Problematik einer untergehenden und sich neu gebärenden Welt überschauen konnten. Aber – und dieses Aber erkennen wir gerade an einem der interessantesten Werke des neuen amerikanischen Theaters: an Thornton Wilders »Wir sind noch einmal davongekommen«.
In diesem Schauspiel wird die Familie Mensch drei Katastrophen ausgesetzt: der Eiszeit, der Sintflut, einem Weltkrieg. Der ewige Adam, die ewige Eva, der ewige Kain werden durch fünf Jahrtausende verfolgt. Im ersten Akt wehren sich Herr und Frau Antrobus gegen die Vereisung. Herr Antrobus ist der Erfinder des Rades und des Hebels. Er arbeitet am Alphabet. Gleichzeitig aber lebt er schon heute und genießt alle Errungenschaften der Zivilisaton. Telegramme werden übermittelt. Scheinwerfer strahlen über riesige Entfernungen. Kain ist ein amerikanischer Junge, der seinen Bruder durch einen Steinwurf getötet hat. Mammut und Dinosaurier leben mit den Menschen der Elektrizität zusammen, vor den wandernden Eismauern fliehen Moses und Homer mit den Arbeitslosen aus den Straßen des heutigen New York. Adam und Eva existieren heute und vor fünftausend Jahren. Mit dem Ruf: »Retten Sie die Menschheit!« fordert Sabina, das Hausmädchen, die Zuschauer auf, die Stühle aus dem Parkett auf die Bühne zu reichen, um die Personen vor dem Erfrieren zu schützen.
Aber nicht genug mit dieser vielfältigen Schichtung der Handlung, mit diesem Hin- und Herspringen zwischen den Zeiten – die Linie wird noch einmal durchbrochen durch den Schauspieler selbst, der aus der Rolle fällt, den Text nicht sprechen will und vom Intendanten zur Ordnung gerufen werden muß. Im nächsten Akt dreht sich die Handlungsspirale weiter. Adam oder vielmehr Mister Antrobus wird zum Vorsitzenden der »Brüderlichen Körperschaft der Säugetiere, Unterabteilung Mensch« gewählt. In der Kongreßstadt Atlantic City vor Spielsalons und Hotelreklamen folgt man der neuen Losung: »Amüsiert euch!« Sabina ist die scharmante Besitzerin eines Bingo-Spielsalons geworden und hat die Schönheitskonkurrenz gewonnen. Kain verfolgt einen Neger, der einen Rollstuhl über den Strand schiebt. Eine Wahrsagerin und hochgezogene Sturmbälle zeigen die Sintflut an. Sabina bricht wieder aus der Rolle und will den Text nicht weitersprechen. Von neuem demaskiert sich das Theater selbst, wie die Menschen von der drohenden Sintflut demaskiert werden. Aber wieder kommt die Familie Antrobus davon, und wieder wird sie aufgefordert, eine neue Welt aufzubauen.
Das alles ist unerhört reizvoll, mit hundert Lichtbrechungen geschrieben – aber hält diese Atomisierung des Theaters stand, wenn im dritten Akt die Menscheit noch einmal davongekommen ist, nach einem Weltkriege? Mitten im Spiel läßt der Dichter einige Rollen umbesetzen, weil die Darsteller sich den Magen verdorben haben. Mister Antrobus will endlich seinen Sohn Kain vernichten, der von Krieg und Zerstörung nicht lassen kann. Aber im Kampf, als Kain dem Adam-Antrobus an die Kehle springt, vergißt sich der Schauspieler so weit, daß er den Darsteller des Vaters beinahe wirklich umbringt. Mitten in der Gipfelszene des Stückes, im Zusammenprall der erhaltenden und der zerstörenden Mächte wird der Kampf an die Privatempfindungen der Schauspieler abgegeben. Gewiß eine neue Spannung für den Zuschauer, eine Nervenaufpeitschung, die ihn aber geistig beruhigt, ein Trick, der das Stück aus der Gefahrenzone herauszaubert. Es mag schon Widerspruch herausfordern, daß der Krieg, der im sprachlichen Gleichnis eine Sintflut oder ein Weltbeben genannt werden mag, hier im Tatsächlichen einer Naturkatastrophe gleichgesetzt wird, einer Naturkatastrophe, gegen die der Mensch machtlos ist, während er gegen den Krieg doch gerade mächtig gemacht werden soll!
Thornton Wilders Stück »Wir sind noch einmal davongekommen« ist wahrscheinlich das Stück der Weltliteratur, das heute die vielseitigsten Probleme aufwirft, weil es auf dem Schnittpunkt des europäischen und amerikanischen Theates steht. Wir können an Pirandello denken und an Jean Cocteau. Wir erinnern uns an frühe Versuche des deutschen Expressionismus. Wir erkennen die formalistishe Zeit des russischen Theaters wieder: Meyerhold und Tairow. Wir können von den Amerikanern selbst die ersten Stück O’Neills erwähnen und von Deutschen einige Werke Bert Brechts. Aber gerade an diesen Stücken erkennen wir den Unterschied. Wenn Brecht, wie wir sahen, die Form des alten Dramas auflöst, wenn er die Regeln zertrümmert, so hatte er eine bestimmt Stoßrichtung. Er nahm den Kampf auf gegen die künstlichen Erregungen der Zeit und die unkontrollierbaren Abenteuer der Illusion. Der epische Stil Brechts in den dreißiger Jahren, der in Abwandlungen wiederkehrt in einem neuen, in Zürich und Wien schon gespielten Werk »Der gute Mensch von Sezuan«, wollte die Reizmittel des Theaters verringern und wieder zu einer strengen Form gelangen, während bei Wilder in der Auflösung der Form gerade die Reizmittel liegen.
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Vor kurzem wurde in einer Zeitung darüber diskutiert, ob dem Theaterzettel einführende Erläuterungen beizugeben seien, weil das Publikum heute sonst manchen modernen und sogar klassischen Stücken hilflos gegenüberstehe. Die Frage ist einseitig gestellt. Der Zuschauer versteht gewiß manche Vorstellung nicht. Das braucht aber nicht gegen ihn, nicht gegen sein Auffassungsvermögen oder seine Bildung zu sprechen. Denn er bekommt die Stücke oft überhaupt nicht zu sehen, sondern im günstigsten Falle Paraphrasen über das Werk oder Variationen. Den Inhalt des Schauspiels, seine Vorgänge, seine Handlung lernt er nicht kennen. Der Regisseur setzt Ablauf und Geschehen eines klassischen Dramas meistens als bekannt voraus und inszeniert seine Bildeinfälle, seine Ideen, seine Randglossen, die oft nichts anderes als die Mode gewordenen Gedanken und Einfälle der Vorgänger sind. Was soll aber ein Publikum, das noch niemals einen Schiller oder Shakespeare oder Hebbel gesehen hat, mit einer Interpretation anfangen, wenn es gar nicht weiß, was interpretiert wird? Da nun diese individualistische oder scheinindividualistische Methode auch auf die unbekannten und problematischen Werke übertragen wird, ist die Verwirrung vollkommen. Der Schauspieler wird irritiert und davon abgebracht, die Entwicklung einer Gestalt im Fortgang der Handlung wiederzugeben. Stilistische Nuancen verdrängen Gehalt und Form.
Anmerkungen
Herbert Jhering wurde am 29. Februar 1888 als Sohn eines Juristen in Springe/Deister geboren. Als seine Eltern nach Hannover zogen, besuchte er dort das Kaiser-Wilhelms-Gymnasium, wo er 1906 sein Abitur ablegte. Danach studierte er Germanistik in Freiburg und wurde anschließend in Berlin Theaterkritiker beim dortigen Börsenkurier – der große Antipode Alfred Kerrs, der für das Berliner Tageblatt schrieb. Als Kritiker war Jhering ein wesentlicher Förderer junger dramatischer Begabungen wie Marieluise Fleißer, Carl Zuckmayer und, vor allem, Bertolt Brecht. Nach 1933 und nach Einstellung des Börsenkuriers übernahm Jhering die Position des emigrierten Alfred Kerr beim Tageblatt, was ihm prompt den Ruf eines NS-Kollaborateurs eintrug. 1936 freilich wurde auch Jhering aus der »Reichsschrifttumskammer« ausgeschlossen, arbeitete als Dramaturg beim Film und, zeitweilig, als Dramaturg am Wiener Burgtheater. Nach Kriegsende kehrte er nach Berlin zurück – wohnte im Westen, arbeitete im Osten: als Chefdramaturg des »Deutschen Theaters«. In Ost-Berlin publizierte er auch seine Bücher, 1947 etwa die Berliner Dramaturgie, aus der die obigen Textauszüge stammen. Am 15. Januar 1977 ist Herbert Jhering in Berlin gestorben.
Quelle
Herbert Jhering, Berliner Dramaturgie. Berlin : Aufbau, 1947, S. 113ff; S. 71.
Publikationen
Titel | Rubrik | Verlag, Verlagsort | Erscheinungsjahr | Erwähnte Orte |
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Berliner Dramaturgie | Aufbau Berlin | #1947 | ###morelink### |