Stimmwunder und Enthusiasmus im Opernhaus Hannover
- 1880 -
[...] Ich erzählte, daß ich einmal in Hannover, einmal in Mannheim und einmal in München (vertreten durch meinen Reisemarschall) die Oper besucht hätte und daß mich diese große Erfahrung davon überzeugt hätte, daß man in Deutschland Sängern, die nicht singen könnten, den Vorzug gäbe. Damit hatte ich wirklich nicht zuviel gesagt, denn ganz Heidelberg war schon eine gestandene Woche vor seinem Auftritt voll des Lobes über den aufgedunsenen Mannheimer Tenor gewesen, obwohl seine Stimme ein so qualvolles Geräusch verursachte wie ein Nagel, mit dem man quer über eine Fensterscheibe kratzt. [...] Der Tenor in Hannover war ein Beispiel gleicher Art. Der englisch sprechende deutsche Herr, der dort mit mir in der Oper war, floß förmlich über von Begeisterung über diesen Tenor. Er sagte: »Ach Gott! Ein großer Mann! Sie werden ihn hören. Er ist ja so berühmt in ganz Deutschland, und er bezieht von der Regierung eine Pension, jawohl. Er ist nicht verpflichtet, im Jahr öfter als zweimal zu singen, aber zweimal muß er singen, sonst bekommt er seine Pension nicht mehr.«
Na schön, wir gingen also hin. Als der bekannte alte Tenor erschien, bekam ich einen Puff, und man flüsterte mir aufgeregt zu: »Da! Jetzt sehen Sie ihn!«
Aber die Berühmtheit war eine starke Enttäuschung für mich. Wenn er hinter einem Wandschirm gestanden hätte, hätte ich angenommen, daß man an ihm eine ärztliche Operation vornähme. Ich sah meinen Bekannten an. Zu meinem größten Erstaunen war er berauscht vor Freude, und vor entzückter Begeisterung tanzten seine Augen förmlich. Als endlich der Vorhang fiel, brach er in stürmischen Applaus aus und klatschte Beifall - wie das ganze Haus -, bis der Schmerzensmann von Tenor dreimal vor dem Vorhang erschienen war und sich verbeugt hatte.
Während der glühende Enthusiast sich den Schweiß von der Stirn wischte, sagte ich: »Ich will ja nichts Böses damit sagen, aber im Ernst: Finden Sie wirklich, daß er singen kann?«
»Er? Nein! Gott im Himmel, aber wie hat er vor fünfundzwanzig Jahren singen können!« (Und etwas nachdenklich): »Ach nein, jetzt singt er nicht mehr, er schreit nur noch. Wenn er denkt, er sänge jetzt noch, dann singt er gar nicht, er gibt nur Töne von sich wie eine Katze, der es schlecht ist.«
Wie sind wir bloß in aller Welt auf die Idee gekommen, daß die Deutschen ein stumpfes und phlegmatisches Volk sind? Sie sind wirklich alles eher als das; sie sind warmblütig, rührend impulsiv, begeisterungsfähig.
Anmerkungen
Im Frühjahr 1878 kam der amerikanische Schriftsteller Samuel Langhorne Clemens (1835 - 1910), bekannter unter seinem Pseudonym Mark Twain, auf den Einfall, eine Fußwanderung durch Europa zu unternehmen. Die Sache mit der Fußgängerei schminkte er sich bereits auf seiner ersten Station, in Hamburg, ab; dennoch wurde es ein ganz besinnlicher Trip, auf dem er, zumal in Deutschland, wunderbare Wörter lernte - zum Beispiel: »Stadtverordnetenversammlungen« oder »Wiederherstellungsbestrebungen«. Auch führte ihn seine Tour in manche der entlegensten Winkel des Deutschen Reiches, und 1880 besuchte er in Hannover das Opernhaus.
Quelle
Mark Twain, Ein Bummel durch Europa (A Tramp abroad, 1880). Übers. Ulrich Steindorff Carrington, Ffm, Berlin, Wien : Ullstein, 1979, S. 36 f.