Shakespeare auf Deutsch - treu und zugleich poetisch

 

- 1796 -

[...] Er wurde immer mehr einheimisch unter uns. Auch Laien in der ausländischen Literatur lernten seinen Namen mit Ehrerbietung aussprechen, und man darf kühnlich behaupten, daß er nächst den Engländern keinem Volke so eigentümlich angehört wie den Deutschen, weil er von keinem im Original und in der Kopie so viel gelesen, so tief studiert, so warm geliebt und so einsichtsvoll bewundert wird. Und dies ist nicht etwa eine vorübergehende Mode, es ist nicht, daß wir uns auch einmal zu dieser Form dramatischer Poesie bequemt hätten, wie wir immer vor andern Nationen geneigt und fertig sind, uns in fremde Denkarten und Sitten zu fügen. Nein, er ist uns nicht fremd : Wir brauchen keinen Schritt aus unserm Charakter herauszugehn, um ihn »ganz unser« nennen zu dürfen. Die Sonne kann zuweilen durch Nebel, der Genius durch Vorurteile verdunkelt werden, aber bis etwa aller Sinn für Einfalt und Wahrheit unter uns ausstirbt, werden wir immer mit Liebe zu ihm zurückkehren. Was er sich hie und da erlaubte, findet bei uns am leichtesten Nachsicht, weil uns eine gewisse gezierte Ängstlichkeit doch nicht natürlich ist, wenn wir sie uns auch anschwatzen lassen; die Ausschweifungen seiner Phantasie und seines Gefühls (gibt es anders dergleichen?) sind gerade die, denen wir selbst am meisten ausgesetzt sind, und seine eigentümlichen Tugenden gelten einem edlen Deutschen unter allen am höchsten. Ich meine damit sowohl die Tugenden des Dichters als des Menschen, insofern sich dieser in jenem offenbaren kann; in Shakespeare ist beides auf das innigste verbunden : Er dichtete, wie er war. In allem, was aus seiner Seele geflossen, lebt und spricht altväterliche Treuherzigkeit, männliche Gediegenheit, bescheidne Größe, unverlierbare heilige Unschuld, göttliche Milde.

His Life was gentle, and the elements
So mix'd in him, that nature might stand up
And say to all the world : this is a man!

    Doch zu so herrlichen Schätzen ist die englische Sprache der einzige Schlüssel; zwar nicht ein goldner, wie Gibbon mit Recht die griechische Sprache nennt, doch wenn schon aus mehr gemischtem, gewiß aus ebenso edlem Metall als die unsrige. Wie sehr sich auch die Kenntnis derselben in Deutschland verbreitet hat, so ist sie doch selten genug in dem Grade, der erfordert wird, um von der Menge der Schwierigkeiten nicht beständig im Genusse unterbrochen oder gar von der Lesung des Dichters abgeschreckt zu werden. Wie wenige gibt es wohl unter denen, welche ihn im ganzen (d. h. die Stellen ausgenommen, wo die Engländer selbst eines Kommentars bedürfen, weil die Wörter veraltet, die Anspielungen unbekannt oder die Lesarten verderbt sind) ohne Anstoß lesen können, denen all die feineren Schönheiten, die zarten Abschattungen des Ausdrucks, worauf die Harmonie eines poetischen Gemäldes beruht, so fühlbar und geläufig wären, wie in ihrer Muttersprache! Wie wenige, die es in der englischen Aussprache zu der Fertigkeit gebracht hätten, die dazu gehört, sich den Dichter mit dem nötigen Nachdruck und Wohlklang vorzulesen! Und dennoch erhöht dies immer die Wirkung beträchtlich, denn die Poesie ist einmal keine stumme Kunst. Solche Leser Shakespeares, bei denen alles Obige zutrifft, möchten sich's denn doch wohl der Abwechslung wegen gefallen lassen, zuweilen auf vaterländischem Boden im Schatten seiner Dichtungen auszuruhen, wenn sie sich nur ohne zu beträchtlichen Verlust an ihrem schönen Blätterschmuck dahin verpflanzen ließen. Wäre also eine Übersetzung derselben nicht eine sehr wünschenswerte Sache? »Wir haben ja schon eine, und zwar eine vollständige, richtige, gute.« Ganz recht! So viel mußten wir auch haben, um noch mehr begehren zu können. Nach der Befriedigung des Bedürfnisses tut sich der Hang zum Wohlleben hervor; jetzt ist das Beste in diesem Fache nicht mehr zu gut für uns. Soll und kann Shakespeare nur in Prosa übersetzt werden, so müßte es allerdings bei den bisherigen Bemühungen so ziemlich sein Bewenden haben. Allein er ist ein Dichter, auch in der Bedeutung, da man diesen Namen an den Gebrauch des Silbenmaßes knüpft. Wenn es nun möglich wäre, ihn treu und zugleich poetisch nachzubilden, Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Teil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen! Es gilt einen Versuch.

 

Anmerkungen

 

August Wilhelm Schlegel wurde am 5. September 1767 als Sohn des Generalsuperintendenten (und Mitbegründers der »Bremer Beiträge«) Johann Adolf Schlegel in Hannover geboren. Er besuchte das hannoversche Lyzeum und begann 1786 sein Studium - zuerst der Theologie, dann der Philosophie - in Göttingen. Hier arbeitete er zum ersten Mal auch, gleichsam als Assistent Gottfried August Bürgers, an Shakespeare-Übersetzungen. Nach einer Zeit als Hauslehrer in Amsterdam ging er 1795 nach Jena und wurde Mitarbeiter an Schillers Zeitschrift »Die Horen«, in der er unter anderem seine ersten eigenen, am Metrum (und wo erforderlich: am Reim) des Originals orientierten Shakespeare-Übersetzungen publizierte. 1796, im 6. Band der »Horen«, erschien dann sein grundlegender Aufsatz »Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters«, aus dem der obige Auszug stammt. Die Zusammenarbeit mit Schiller endete kurz darauf recht unerquicklich für A.W. Schlegel - doch seine Shakespeare- Übersetzungen wurden zu Klassikern.
Im gleichen Jahr 1786 heiratete A.W. Schlegel in Braunschweig Caroline Böhmer geb. Michaelis (Scheidung: 1803), war längere Zeit der Cicisbeo Madame de Staëls, dann der Geheimsekretär des schwedischen Kronprinzen und wurde schließlich, 1818, Professor für Kunst- und Literaturgeschichte an der Universität Bonn. Dort ist August Wilhelm Schlegel am 12. Mai 1845 gestorben.

 

Quelle

 

August Wilhelm Schlegel, Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1786). In: Schriften (Auswahl und Einführung von Walter Flemmer). München : Goldmann, o.J., S. 32 - 35.

 

Publikationen

Titel Rubrik Verlag, Verlagsort Erscheinungsjahr Erwähnte Orte
Schriften Goldmann München #o.J. ###morelink###