Im Oberhalb von Göttingen

 

- 1931 bis 1932 -
Aus ihrem »Lebensrückblick«

VOR DEM WELTKRIEG UND SEITHER

Im Spätherbst 1903 waren wir nach Göttingen übergesiedelt, wohin mein Mann als Iranist berufen worden war. Außer andern Wünschen erfüllte sich uns damit der nach vollkommener Ländlichkeit des Wohnens, denn das Oberhalb von Göttingen verhieß davon mehr als das Neben-Berlin. Wie durch ein kleines erlösendes Wunder im Märchen gerieten wir, auf schon halb verzweifelter Suche nach Stadtabgelegenem, auf der Rohnshöhe an unser Fachwerkhäuschen im alten Obstgarten. Damals umgab’s noch soviel Einsamkeit, daß an des langen Gartens Endwinkel sogar einmal junge Füchslein auftauchten.
Diese Naturnähe wirkte auf mich jedesmal erneut wie eine Lebensfüllung. Gleichviel, von wo ich im Laufe dreier Jahrzehnte hierher zurückkehrte : immer wieder schien die jeweilige Jahreszeit diesen Fleck Erde am vollsten, gesammeltesten zu umstehen, als ginge sie von ihm aus. Ich gewöhnte mich an ein wunderliches Verhalten : Nach längerem Verweilen anderswo pflegte ich bei frühmorgendlichen Wiedersehensgängen – sozusagen landschaftlich – abzuschätzen, wie die inzwischen empfangenen Eindrücke sich ausnähmen neben alledem, was Busch und Baum inzwischen widerfahren war, – alledem, was seinen Frühling ausgestreut hatte oder seinen Herbst gefeiert : ewigen Wechsel in ewigem Gleichmaß; pflegte nachzuproben, ob und wieweit das menschenkompliziertere Erleben wohl standhalte vor dem, was so durchaus kein Wesen von sich macht und in seiner Allselbstverständlichkeit so wesenhaft sich begibt.
Im ersten Frühling nach unserer Übersiedlung unternahm ich, veranlaßt durch beeinträchtigte Gesundheit, eine Erholungsreise mit einem ärztlichen Freund. Gerade trat das Obst in Blüte : ein riesiger alter Birnbaum (erst voriges Jahr hat ihn der Sturm geborsten) drängte vor einem Fenster meiner Arbeitsstube seine weiß überschütteten Zweige tief ins Zimmer hinein : fast Sünde erschien es, davon wegzugehen; ich erwog aber, daß es ja übers Jahr genau so frühlingsschön wiederkehren werde : und siehe da – im nächsten Jahr blieb der Baum grün. Er hatte sich zu reichlich ausgegeben und überschlug einen Mai; diese Erklärung verschlug aber nichts am nachdenklichen Eindruck auf mich.
Viele Fenster gegen das Außen; und dessen Sonne ins Haus hinein. Dabei waren meine beiden Stuben im Oberstock wie eine Laube, von breitästigen Linden umstanden, die gegen alle Blendung zum grünen Vorhang wurden, im Spätherbst aber, wenn erste Sturmstöße die Blätter davonstieben machten, mit der neuen Helle gleichsam tröstend alles überfluten ließen. Meine Wände, von mir tiefblaugrau stoffüberzogen, gerieten ins Verbleichen, ohne daß jedoch dies Schicksal den Grundton ins Unrecht gesetzt hätte; die schließliche Neutralität der Grundfarbe hielt sich nur um so sympathischer dem Buntwilligen russischer Bauernstickereien und ähnlichen historischen Erinnerungsstücken hin. Freilich : umhängen, ja auch nur umrücken, durfte man nichts : dahinter blickte es immer noch tiefblaugrau hervor und hielt treu fest, was gewesen. So blieb deshalb auch an der Hauptwand Heinrich Vogelers Liebesbild, das er mir selbst hingehängt und das eigentlich ein Rainerbild war. Aber auch jetzt noch bin ich nicht für die zu häufigen Änderungen in den Wohnräumen, als Anpassungen an die Stimmung. (Bei Rainer ging das oft zu weit infolge unwillkürlicher Verwechslung des äußerlich der Stimmung Angepaßten mit innerlich Vorgenommenen – das sich dadurch irrtümlich einlullen ließ). Rainer liebte meine Räume sehr, und nicht zum mindesten wegen jener tiefen, starken Farbflecke hinter Möbeln und Bildern, die wie verborgene Rückwege in Vergangenes bereit blieben : kleine Tore in Unvergängliches.
Die beiden großen Bärenfelle, die von W. Brandts gefährlichen Jagden in Rußland stammten, beherrschten das Arbeitszimmer, umgeben von den simpelsten Bücherregalen aus Tannenholz. Mit dieser Bücherei aber ist es recht übel bestellt, und nicht erst, seitdem ich nach meines Mannes Tode in den Verkauf der seinen manches mithineingeworfen habe. Ich hatte (gut und richtig!) mich von vornherein jeglicher Neuanschaffung enthalten um der so viel wichtigern Vermehrung von meines Mannes Bibliothek willen, die nicht nur Notwendigkeit, sondern für ihn intensives Glückserleben bedeutete. Den alten Grundstock zu meiner Bücherei aus Mädchentagen aber hatte ich in Rußland zurückgelassen; sowohl unsere großen Dichter, deutsche und russische, als auch Bücher, die ich zu meiner damaligen halb verheimlichten Studiererei gebraucht und teilweise noch mühsam und heimlich für geschenkten Schmuck erworben hatte, den ich dazu veräußerte. Doch ein Hauptgrund für die elende Verfassung meiner Bücherei ist der folgende arge : daß die Dicke oder Schwere der Bände mir beim Lesen in liegender Lage so hinderlich ist, daß ich sie am liebsten zerteilt las und nicht gern wieder neu binden ließ. Endlich auch habe ich jederzeit immer wieder verliehen und fortgegeben, insbesondere was mir am wertvollsten war, – und das hat einen etwas verrückten Spezialgrund, fürchte ich : eine Nichtachtung vor dem tausendfältig vervielfachten Papierexemplar als unpassendem zu seinem Inhalt; als müsse von Rechts wegen der Inhalt ein selbständig vor den Augen geisternder bleiben, ohne Bezug zum Papier.
In einer Erzählung (»Das Haus«) machte ich schon 1904 unser Häuschen zum Schauplatz von Begebenheiten, für die ich – mit Vertauschung von Lebensaltern, Geschicken und Beziehungen untereinander – lauter mir tief vertraute Menschen verwandte, auch Rainer als Knabengestalt zwischen glücklichem Elternpaar; mit seiner Zustimmung ward auch ein Brief an mich darin verwertet. Vorher aber schon, nahezu beendet noch in Schmargendorf, schrieb ich mir das Heimweh nach Rußland aus der Seele, – daraus ist »Ródinka« geworden, von dem ich gern gehabt hätte, daß es gelesen worden wäre, weil es von Russischem hätte erzählen dürfen; während mir sonst, was ich aufschrieb, nur oder fast nur um des Vorgangs selber, um des Prozesses willen wichtig und irgendwie lebensnotwenig blieb. In einem Banksafe bewahrte ich meine Manuskript-Bibliothek auf und entnahm ihr lediglich aus dem »unedelsten« Motiv, nämlich aus schmählichen Geldgründen – und oft wie ungern! – ein verkäufliches Stück. Es sei denn, daß es sich um Aufsätze verschiedenster Art handelte, die ich, ohne sie zu sammeln, in alle Welt verstreut habe, teils weil ihr Thema mir aktuell am Herzen gelegen, teils weil sie von vornherein durch wirtschaftliche Schwierigkeiten veranlaßt waren. Hierbei will ich eine Wunderlichkeit verraten : Bei solchem begrifflichen Arbeiten empfand ich mich verstärkt als bei einem weiblichen Tun, dagegen bei allem, was in Dichterisches einschlägt, als bei einem männlichen; darum sind auch meistens die Frauengestalten von mir mit Augen des Mannes angeschaut. Der Grund für beides reicht noch aus dem Kindlichen herauf : denn in das Begriffliche, zu dem mein Freund micht erzog, ist die Liebe zu ihm weiblich einbezogen gewesen, wohingegen alles, was die Phantasie in Bewegung setzte, seinem Verbot unterlag und nur in männlich gerichteter Trotzeinstellung sich dem Gehorsam entziehen konnte. Es ist – wie nun mal menschliche Triebleistungen tief-unbewußt verwurzelt sind – kaum noch wunderlicher, daß diese Nachwirkungen tatsächlich erst in meinem recht weit vorgeschrittenem Alter – mit etwa 60 Jahren – geschwunden sind.
In den Wintermonaten erlag ich mehrmals der starken Verlockung, sie in Berlin zu verbringen, veranlaßt durch Max Reinhardt, der mich einlud, seine Gründung der »Kammerspiele« in den Proben mitzuerleben. [...]

 

Quelle

 

Lou Andreas-Salomé, Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen [1931-1932]. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Pfeiffer. Zürich : Max Niehans (und: Wiesbaden : Insel), 1951, S. 215 – 222.

 

Publikationen

Titel Rubrik Verlag, Verlagsort Erscheinungsjahr Erwähnte Orte
Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen [1931-1932] Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Pfeiffer Max Niehans Zürich #1951 ###morelink###