Es sind doch nur Ruinen zu sehen
- 1950 -
Eine Rückkehr in die Vaterstadt Hannover
»Deutsches Tagebuch«: 15. Juli 1946
Nach einigen Schwierigkeiten gelingt es mir, eine Reiseerlaubnis – Leave Order – nach Dänemark zu erhalten. Es klingt komisch, da ich gar nicht beabsichtigte, nach Kopenhagen zu gehen. Aber da diese Reise über die Britische Zone, über Bremen führt, so bietet es für mich die Möglichkeit, meinen mir zustehenden Urlaub in Worpswede zu verbringen. Es ist ganz einfach. Ich reise allein; es ist ein seltsames Gefühl, mit dem Schnellzug direkt über Würzburg nach Fulda zu fahren. Dort muß ich aussteigen. Ich habe diese ganze deutsche Landschaft damals gesehen, als ich von USA kam, aber nun bin ich ja in gewissem Sinne »frei«. Trotzdem ich Uniform trage und mich an den Wortlaut meines Urlaubsscheines halten muß.
Der Trick besteht darin, daß ich einfach in Bremen, welches den Sammelpunkt für die Reisenden nach Dänemark bedeutet, aussteige und nach Worpswede gehe. An der britisch-amerikanischen Zonengrenze werden die deutschen Reisenden genau untersucht, mich belästigt niemand. Nur ein britischer MP fragt mich sehr höflich nach der »Leave Order«. Er sagt dann:
»Have a good time in Denmark.«
Der Personenzug fährt langsam meiner Vaterstadt Hannover zu. Ich passiere Göttingen, einen Augenblick hält der Zug. Irgendjemand sagt zu mir und deutet auf die Berge:
»Da beginnt Rußland.«
In diesem Augenblick begreife ich erst die Teilung des deutschen Gebietes. Meine Empfindungen sind recht zwiespältig, währenddem der Zug immer weiter nach Norden fährt, der Stadt Hannover zu. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, hier zu sitzen, zum Fenster hinaus zu blicken und die Landschaft der Kindheit wiederzusehen. Gewiß, ich sah es früher schon, vor 1933. Damals dachte ich mir nichts dabei. Jetzt aber sitze ich hier, ein Beamter der amerikanischen Regierung, der in seiner Heimat ist und es eigentlich nicht laut sagen kann.
Als die Vorstädte Hannovers auftauchen, bekomme ich richtiges Herzklopfen. Da sind alle die Stätten, die in meiner Jugend mir so viel bedeuteten. Die Zerstörung der Häuser und Anlangen stimmt mich wehmütig, ich fühle doch stark, wie ich den Krieg überlebt habe. Als der Zug in die völlig zerstörte Bahnhofshalle einfährt, ich das Schild lese »Hannover«, da wir mir ganz schwach zumute. Ich schelte mich selbst sentimental, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich nehme meine Handtasche, das einzige Gepäckstück, das ich habe, gehe die Treppe hinunter bis auf den Bahnhofsplatz.
Ein entsetzlicher Anblick. Kein Haus ist mehr zu sehen. Die Hotels um den Platz sind fort, nur das Denkmal des Königs Ernst August steht. Ich weiß, daß ich hier mindestens zwei Stunden zu verbringen habe, aber mir fehlt der Mut, in die Straßen zu gehen, die gar keine mehr sind. Ich setze mich auf eine Bank vor dem Bahnhof, ein älterer, sehr unordentlich und verwittert aussehender Mann setzt sich neben mich. Sieht mich an. Wie mechanisch gebe ich ihm eine Zigarette, er antwortet:
»Verstehen Sie deutsch?«
Ich nicke nur, da sagt der Mann:
»Es ist alles fort hier, Sie können direkt bis zur Leine sehen, alle Straßen sind weg, kennen Sie das überhaupt, wo sind Sie eigentlich her?«
Ich weiß nicht recht, was ich antworten soll; es ist ein merkwürdiges Gefühl, in der Stadt seiner Geburt als ein Fremder zu sitzen. Besser gesagt, unter den Trümmern seiner Geburtsstadt zu sitzen. Schließlich sage ich wie nebenbei:
»Ich bin aus Hannover.«
Der Mann sieht mich erschrocken an, sagt:
»Wie ist denn das möglich? Sie haben doch amerikanische Uniform ... wie ist denn das möglich?«
Ich sehe in ein völlig erstauntes und völlig verwirrtes Gesicht, dann sage ich:
»Das ist sehr natürlich, haben Sie schon einmal etwas von Herrn Schickelgruber gehört? Der hat mich aus Deutschland hinausgetrieben; ich bin von hier, meine Eltern auch, meine Großeltern ... alle ...«
Es macht sichtlich Eindruck auf den Mann, er schüttelt in einem fort den Kopf. Er kann es nicht fassen. Da sitzt nun ein Mensch, der sicher dies alles gar nicht vorher überlegt hat, plötzlich begegnet ihm ein Hannoveraner, in einer fremden Uniform, er spricht seine Sprache, er ist aus derselben Stadt. Wie kann er das verstehen. Es ist ein sehr merkwürdiger Augenblick für mich, denn ich begreife, daß dieser Mann da nur einer von den vielen ist, die sich niemals Gedanken daüber machten, was eigentlich geschehen ist. Ich gebe ihm noch eine Zigarette, er dankt. Er spricht hannoverisches Deutsch, als er fragt:
»Ich trage Ihnen gern die Tasche, wenn Sie irgendwohin gehen müssen.«
Ich schüttele den Kopf, sage:
»Ich wüßte nicht, wohin ich gehen sollte. Es ist ja alles nicht mehr hier, es sind doch nur Ruinen zu sehen, das mag ich nicht.« [...] Ich fühle mich wie ein Gestorbener, der als Geist zurückkehrt. Vielleicht bin ich das.
Anmerkungen
Das »Deutsche Tagebuch« bildet den Mittelteil von Karl Jakob Hirschs (zweiter) Autobiographie »Quintessenz meines Leben«, die er 1950 niederschrieb, zu seinen Lebzeiten aber nicht mehr publizieren konnte. Das Buch erschien, herausgegeben von Helmut F. Pfanner, erst im Jahr 1990. Karl Jakob Hirsch, am 13. November 1892 in Hannover, Stiftstraße 1, geboren, wurde 1931 mit seinem – großteils in Hannover spielenden – Roman »Kaiserwetter« als Erzähler berühmt. Bis 1935 arbeitete er als Redakteur des »Israelitischen Familienblatts« in Berlin und emigierte dann zunächst in Schweiz und später (wohl 1937) in die USA. Dort erhielt er 1942 eine Anstellung beim Civil Service als Sachbearbeiter für »deutschsprachige Angelegenheiten«. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs kehrte Hirsch, der sich 1945 hatte protestantisch taufen lassen, in amerikanischer Uniform nach Deutschland zurück. Sein Büro lag in Pullach. Von dort aus unternahm er die im Tagebuch beschriebene Reise nach Worpswede, wo seine erste Frau, Dr. Auguste Lotz, als Landärztin praktizierte. 1948 zog Hirsch – nach zwischenzeitlicher Rückkehr in die USA – endgültig wieder nach Deutschland und lebte in München. Er schrieb für Zeitungen, Magazine und den Rundfunk, fand aber für keinen seiner früheren und neuen Romane einen Verleger. Nach schwerer Krankheit ist Karl Jakob Hirsch am 8. Juli 1952 in München gestorben.
Quelle
Karl Jakob Hirsch, Quintessenz meines Lebens. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Helmut F. Pfanner. Mainz : v. Hase & Köhler, 1990, S. 291 – 295.
Publikationen
Titel | Rubrik | Verlag, Verlagsort | Erscheinungsjahr | Erwähnte Orte |
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Quintessenz meines Lebens | Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Helmut F. Pfanner | v. Hase & Köhler Mainz | #1990 | ###morelink### |