Ein schwärmerischer Zug im Schnitt der Taille

 

- 1895 -

Aus der Erzählung: »Der Einhorn-Apotheker«

I

Die Tätigkeit eines Referendars ist schon deshalb eine der vornehmsten unter allen menschlichen Tätigkeiten, weil sie niemals durch Maschinenarbeit ersetzt und überflüssig gemacht werden kann. Während nämlich auf allen anderen Gebieten mit jeder neuen Erfindung eines geriebenen Mechanikers soundso viele »Hände«, welche doch nicht bloß arbeiten, sondern auch Lohn empfangen wollen, erspart werden, trotzt der Referendar mühelos allen Erfindern noch so guter und billiger Schreibmaschinen; denn wie billig eine solche auch sein mag : er ist noch billiger : er ist gratis. Darin besteht seine uneinnehmbare Stellung, darauf beruht seine Würde, das ist sein Rang.
Sooft ich über den mir gewordenen Beruf nachdachte, um so sinnvoller erschien mir die Verknüpfung meines Schicksals. Was war seit meinen Kinderjahren mein Traum, meine Sehnsucht gewesen? Schreiben! Schreiben zu dürfen, womöglich ein richtiger Schriftsteller zu werden. Nun, das war mir im wesentlichen in Erfüllung gegangen. Schreiben durfte ich, schreiben konnte ich, schreiben mußte ich sogar. Und wenn es einstweilen weniger meine eigenen Gedanken und Gestalten waren, die ich auf das Papier brachte, sondern meistens diktierte Protokolle, so mußte ich mich mit dem Gedanken trösten, daß nicht alles auf einmal kommen könne. Jedenfalls : das Sinnfältige, das Materielle meiner Wünsche hatte ich erreicht : ich schrieb.
Und das in Stolberg. Länger als neun Monate habe ich in diesem süßen Erdenwinkel dem Preußischen Staate meine bescheidenen, aber unbezahlbaren Dienste leisten dürfen. Ist es da ein Wunder, daß mir das Städtchen ans Herz gewachsen ist, und daß meine Gedanken oft und mit Vergnügen zu jenem Referendarsidyll zurückkehren?
Aber auch die lieben Menschen, die dort wohnen - es sei ferne von mir, daß ich ihnen etwas Boshaftes oder Unrechtes nachrede. Vor allem muß ich zu ihrer Ehre und um sie vor Zweideutigkeit zu schützen, rühmend hervorheben, daß sie, wenigstens soweit sie der »besseren« Gesellschaft angehörten, sehr bald, nachdem sie mich kennen gelernt hatten, den offizellen Verkehr mit mir abbrachen - es kann auf sie auch nicht der Schatten eines Verdachtes fallen, als ob sie jemals mit mir sympathisiert hätten.
Ich glaubte diese Erklärung dem Rufe jener ehrlichen Leute schuldig zu sein und will nun auch erzählen, was den ersten Anlaß dazu gab, daß ich es mit ihnen verdarb.                                                                                                         Der Konsistorialrat Pfitzner, der ältere Amtsbruder des gastfreien Pastors Viemeyer, hatte auch ein Mädchenpensionat. Jedoch war dieses von anderer Art als jenes der Frau Oberförster in Magdeburg : der Unterschied war sogar dem Pastor Viemeyer aufgefallen, der sich dahin äußerte, daß ihm die Mädchen in Magdeburg »wesentlich geweckter« vorgekommen wären.
Zu den erlaubten Ausschweifungen dieses Mädchenpensionats gehörte das herzerquickende Ringestechen oder Reifefangen. Es geschah dies aber also. Man verteilte sich auf einer Wiese in zwei Gruppen, und jeder nahm ein kleines Rohrstöckchen in die Hand. Mittels dieser Rohrstöckchen suchte man dann kleine Reifen, welche ebenfalls von dünnem Rohre gefügt waren, teils einander zuzuwerfen, teils sie aufzufangen. Wenn man nämlich einen in hohem Bogen auf einen zufliegenden Reif kunstgerecht aufgefangen hatte, empfand man eine sanfte Genugtuung; wenn es mißlang, hatte man das Gefühl eines leichten Ärgers, und im ganzen war es eine sehr gesunde Bewegung.
Die jüngeren Herren vom Gericht wurden zu diesen Vergnügungen mit Vorliebe kommandiert; sie standen in dem Rufe einer besonderen Begabung für jenes sinnige Spiel, was der geistreiche Assessor Rothe in das schöne Wort faßte : Ein richtiger Jurist trifft nicht bloß stets ins Schwarze, er weiß auch ins Weiße zu treffen. Mit dem Weißen meinte er aber den leeren Raum innerhalb der Rohrreifchen. Dieser Scherz wurde häufig wiederholt.
An der wundervollen Chaussee, die von Stolberg nach Rottleberode aus dem Harz hinausführt, liegt, etwa eine halbe Stunde von Stolberg entfernt, ein einsames Wirtshaus, hart an der Felsenwand, in die der Wirt seine Keller geschlagen hat. Dem Wirtshaus gegenüber, an der anderen Seite der Chaussee, breiten sich einige Waldwiesen aus, und diese waren zur Sommerzeit häufig der Schauplatz der erwähnten kindlichen Spiele.
An einem herrlichen Junitage hatte dort bis zur sinkenden Sonne der Kampf getobt, und man schickte sich schließlich einträchtiglich zum Heimgange an. Hierbei geschah es, daß ich mit Fräulein Hannchen aus Bremen und dem Einhorn- Apotheker zusammengeriet und mit diesen beiden trefflichen Menschenkindern vereint die Straße fürbaß schritt.
Fräulein Hannchen war, wie gesagt, aus Bremen, und das war wohl das Charakteristischste an ihr. Im übrigen war sie jenes junge Mädchen, das schon so unzähligen Komödienschreibern den Vorwurf schablonenhafter Mache eingetragen hat, weil - ein jeder von ihnen - mit heißem Bemühen, danach gestrebt hatte, es möglichst echt und naturgetreu wiederzugeben.
Sie hatte einen blonden Mozartzopf, hellgraue Augen und einen gewissen schwärmerischen Zug im Schnitt ihrer Taille. Ihre Rede war Ja, Ja und Nein, Nein, was darüber war, war meistens vom Übel. Sehr häufig sagte sie jedoch auch Ach.
Wesentlich interessanter und konturenreicher war da schon der Einhorn- Apotheker. Er hatte vor allem eine »Weltanschauung«, auf deren Besitz er viel Wert legte. Worin diese bestand, kann ich jedoch nicht mit wünschenswerter Klarheit angeben, da er meist erst in vorgerückter Nachtstunde darauf zu sprechen kam. Ich erinnere mich nur, daß er durchaus auf dem Boden des kategorischen Imperativs unseres großen Kant stand : »durchaus«.
Auch sonst war er ein ernster Mensch und für ein durchschnittliches Alltagsgespräch schwer zugänglich. So kam es denn auch, daß er jetzt schweigsam neben Fräulein Hannchen aus Bremen einherging, und es mir überließ, das liebe, junge Mächen zu unterhalten.
– Ach sagen Sie doch, Herr Referendar : was sind das eigentlich für merkwürdige Bäume, die hier überall an den Chausseen wachsen?
Die Bäume, die sie meinte, waren ganz gewöhnliche Buchen, die jedoch der herrschaftliche Geschmack der regierenden Grafen von Stolberg-Stolberg zu allerlei stereometrischen Figuren, Pyramiden, Kegeln, Zylindern und dergleichen hatte zustutzen lassen.
Fräulein Hannchen aus Bremen hatte sich wohl dadurch irreführen lassen und sah die Bäume für fremdartige Gewächse an, nach deren Herkunft sie sich bei mir erkundigte. Da ich meine Mitmenschen nur ungern in ihren Illusionen störe, erwiderte ich nach einigem Nachsinnen und nachdem ich einige botanische Forscherblicke um mich geworfen hatte :
– Ja, wissen Sie denn das noch nicht, mein gnädiges Fräulein? Diese Bäume sind ja eine der größten Merkwürdigkeiten des Stolbergschen Vaterlandes. Sie haben doch gewiß schon davon gehört, daß einer von den erlauchten Vorfahren unseres Herrn Grafen einen Kreuzzug mitgemacht hat.
– Ach! - rief Fräulein Hannchen, - welchen denn? -
Ich geriet in Verlegenheit. Um mir jedoch keine Blöße zu geben, sagte ich rasch :
– Den Kinderkreuzzug. -
– Ach! - rief das wissensdurstige Fräulein Hannchen, - wozu wurde der denn eigentlich unternommen?
– Nun...also..hm..zur Befreiung der Juden. Jawohl. - Adolf war damals noch recht klein. Er hieß nämlich auch Adolf - der Vorfahr. Wie Sie wissen, ging es mit dem Kinderkreuzzug damals ziemlich schief : auch der kleine Adolf wäre beinah umgekommen. Seine Beinchen taten ihm so weh, daß er schließlich mitten im gelobten Lande liegen blieb und gar nicht mehr weiter wollte. Wenn er aber da so allein zurückgeblieben wäre, hätten ihn ganz sicher die wilden Tiere gefressen. Da erschien ihm der heilige Georg - - wissen Sie, gnädiges Fräulein, so erzählt es die Legende. Tatsächlich wird es wohl irgendein älterer, wohlwollender Herr gewesen sein. Der sprach : Komm, kleiner Adolf, hebe deine Batterbeinchen auf und lauf noch ein Endchen mit, bis wir ans Meer kommen. Aber der kleine Adolf war verzagt und weinte und sagte : Nein, hier muß ich bleiben und sterben. Da riß der heilige Georg, oder wer es nun war, ein ganz dünnes Reis aus dem Boden, reichte es dem kleinen Adolf und sprach : Du wirst nicht eher sterben, als bis du dies Reis in den Boden deiner Heimat eingegraben und daraus einen stattlichen Baum hast erstehen sehn.
- Ach, wie nett!
- Ja : dieser heilige Georg der Legende muß zum mindesten ein guter Menschenkenner gewesen sein, denn der kleine Adolf faßte krampfhaft nach dem dürren Reis und stapfte wieder mutig weiter. Er ist denn auch glücklich wieder nach Stolberg heimgekommen. Das erste, was er tat, war natürlich, daß er das Wunderreis einpflanzte - und siehe da, es wurde ein seltsamlich geformtes Bäumchen, dergleichen man vordem niemals hier gesehen. Und von dem ersten Bäumchen stammen alle ab, die Sie hier - und nur hier so häufig sehn. Es wundert mich wirklich, daß Ihnen der Herr Konsistorialrat diese Geschichte von den Bäumen aus Judäa noch nicht erzählt hat. -
– Ach der - was Hübsches erzählt der einem ja nie. -
Der Einhorn-Apotheker hatte unser Gespräch schweigend mit angehört, und obwohl er doch in botanischen Dingen erfahrener sein mußte, als ich, nahm er keine Gelegenheit, sich einzumengen, sondern sah ernsthaft vor sich hin.
Als wir uns später von den Damen und der übrigen Gesellschaft vor der Tür des Herrn Konsistorialrats verabschiedet hatten und in Erberhards gemütlichem Gastzimmer beim Weine saßen, sagte er :
– Nun sagen Sie mir mal offen, glauben Sie an die Geschichte, die Sie dem Fräulein Hannchen vorhin erzählt haben?
– Aber lieber Herr Konstantin : was denken Sie von mir : sie ist mir beim Sprechen so eingefallen.
– Nun ja : das dacht ich mir. Aber sehen Sie, das find ich nun nicht recht von Ihnen. Das ist nämlich die ganz gemeine Buche, Fagus sylvatica.
– Aber lassen Sie mir doch meinen Spaß.
– Ja : Sie verwirren dieses junge Mädchen, das in seinen botanischen Kenntnissen offenbar noch nicht recht sicher ist...
Ich brach das Gespräch ab, und wir redeten bald über harmlose und neutrale Dinge ... Monarchie, Religion, Ehe, Eigentum und dergleichen.
Zu derselben Zeit aber wollten es meine Sterne, daß die Familie des Konsistorialrats Pfitzner mit all ihren Pensionärinnen um den großen, runden Tisch beim Abendessen versammelt saß und daß Fräulein Hannchen aus Bremen ihr Mündchen auftat und fragte :
– Ist das wirklich wahr, Herr Konsistorialrat, der Herr Referendar hat mir erzählt, die beschnittenen Bäume an der Chaussee wären alle von jüdischer Abstammung?
Das entsetzliche, qualvoll lange Schweigen, das nach dieser ungeschickten Frage eintrat, wurde erst unterbrochen, als der Herr Konsistorialrat wie allabendlich die Hände faltete und sprach :
– So laßt uns denn beten ...

II

Damit war es mir geglückt, in den erfreulichen Ruf zu geraten, daß man mich nicht gut mit jungen Mädchen zusammen einladen könne, weil ich zu wenig Respekt vor ihrer Unschuld an den Tag lege. Und so kam es, daß man mich von Stund an von dem Ringelchenwerfen dispensierte. Ein älterer Assessor, der das Grundbuchwesen bearbeitete, und von dem man bereits geglaubt hatte, absehen zu dürfen, wurde wieder hervorgesucht und mußte an meiner Stelle auf der grünen Wiese hüpfen.
Ich aber begann mich mehr und mehr für den seltsamen Einhorn-Apotheker zu interessieren. Seit jenem Abend mußt ich ihn im stillen stets mit jenen Bäumchen aus Judäa vergleichen, die so künstliche Konturen trugen und im Grunde doch gemeine Buchen waren. [...]

 

Quelle

 

Otto Erich Hartleben, Der Einhorn-Apotheker (1895). In: Ausgewählte Werke (herausgegeben von Franz Ferdinand Heitmueller). Berlin : S. Fischer, 1911. Zweiter Band : Prosa, S. 145 - 154.

 

Publikationen

Titel Rubrik Verlag, Verlagsort Erscheinungsjahr Erwähnte Orte
Ausgewählte Werke Zweiter Band : Prosa S. Fischer Berlin #1911 ###morelink###

Orte