Duodez
- 1911 -
Erfahrungen im Fürstentum Schaumburg-Lippe
Wenn man von Köln nach Berlin fährt, dann erblickt man kurz hinter Minden plötzlich blau, weiß und rot angestrichene Grenzpfähle, und wenn man seine Reisegefährten fragt: »Was ist denn das?« so erhält man die Antwort: »Och, das war eben Schaumburg-Lippe!«
Das Fürstentum ist nämlich sehr klein, doch wird seine Kleinheit von böswilligen Leuten vielfach stark vergrößert. So ist es z.B. nicht wahr, daß alle Kegelbahnen im Lande gekrümmt seien, weil sie sonst innerhalb der Landesgrenzen keinen Platz finden würden; auch ist es eine üble Nachrede, daß der Fürst in seinem Hauptjagdreviere, dem Schaumburger Walde, immer nur der Länge nach schieße, aus Angst, anderenfalls kgl. preußische Untertanen im Kreise Minden anzubleien. Dagegen ist es Tatsache, daß man von der Residenzstadt, die den ebenso schönen wie ungemein treffenden Namen Bückeburg führt, nach keiner Richtung über eine Stunde weit gehen kann, ohne sich im Auslande, d. h. in Preußen, zu befinden und dasselbe ist bei der zweiten Stadt des 45 000 Einwohner zählenden souveränen Fürstentums, Stadthagen, der Fall.
Schaumburg-Lippe gilt als ein sehr schönes Ländchen, und zwar mit vollem Rechte, denn man kann von da aus sehr hübsche Fußwanderungen in die benachbarten, zu Preußen gehörigen Berge, den Bückeberg und das Wesergebirge machen, vorausgesetzt, daß man sich um die schaumburg-lippischen Einsprengsel darin herumzudrücken weiß. Denn in dem Fürstentum sind alle Wälder, bis auf einige kleine Bauernbüsche, fürstliches Privateigentum, das man außerhalb der öffentlichen Wege nicht betreten darf, damit die fürstlichen Sauen, Hirsche, Rehe, Hasen und Fasanen nicht vergrämt werden. Man kann sich aber sehr leicht zurechtfinden. Wo Touristenzeichen und Wegweiser sind, da ist man in Preußen; wo nur Warnungstafeln stehen, in Schaumburg-Lippe.
Außer den Warnungstafeln, die die hauptsächliche Sehenswürdigkeit des Landes bilden, denn auf keinem Fleck der Erde gibt es so viele auf so wenig Land, ist die zweitbedeutendste die Geflügelzuchtanstalt des Prinzen Hermann, von bösen Leuten Geflügelunzuchtanstalt genannt [...]. Fernere Sehenswürdigkeiten sind ein Hofsozialdemokrat, zwei Hofzwerge und unzählige Hoflieferantenschilder. Mag ein Kaufmann oder Gewerbetreibender es noch so geschickt anstellen, Hoflieferant wird er doch, ob er nun will oder nicht, und dann hat er die Freude, diese Bezeichnung über seiner Türe anzubringen, und den Schmerz, daß der Hof seine Einkäufe größtenteils in Minden, Hannover oder Berlin deckt, und die Hofgesellschaft nicht minder. Das geschieht nun weniger, um die preußischen Finanzen zu kräftigen, sondern um zu verhindern, daß zwischen den Einkommensverhältnissen der Geschäftsleute und denen der Beamten eine zu gähnende Kluft entstehe und also auf beiden Seiten eine gemütliche Genügsamkeit erhalten bleibe.
Nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in geistiger und gesellschaftlicher Hinsicht herrscht im Fürstentum ein bekömmlicher, zu keinerlei Aufregungen führender Durchschnitt.[...] Man sorgt im Gegenteil dafür, jeden Menschen, der mehr kann oder weiß als es Landesbrauch ist, beizeiten loszuwerden oder als komische Figur in den Hintergrund zu stopfen.
Dieser Standpunkt ist sehr berechtigt, denn in ein Duodezland passen keine Geister von Quart-, ja noch nicht einmal von Oktavformat, von Folioausgaben gänzlich zu schweigen. So trägt denn das geistige Leben des Ländchens vollkommen das Gepräge eines ehrbaren und würdevollen Unterdurchschnitts, gepaart mit einer unerschütterlichen und in sich gefestigten Langweiligkeit. Das merkt man sofort, hat man das Glück, zu der besseren Gesellschaft gehören zu müssen. Selbst auf den reichsten Geist und die feurigste Seele wirkt das Leben in ihr bald wie eine Mast- und Liegekur. Sobald ein Mensch ein Jahr in ihr verlebt hat, fühlt er eine wohltätige Abspannung im Gehirne, die ihn mit lächelndem Gleichmute allem gegenüber erfüllt, was irgendwie über die Grenzen des ortsüblichen Auffassungsvermögens hinausgeht. Er besucht das Kasino und den Wanderabendschoppen der akademisch gebildeten Gesellschaft, nimmt an zwölf bis vierundzwanzig Gesellschaften teil, die alle um sieben beginnen und Schlag elf Uhr endigen und sich so ähneln wie eine Zigarre aus derselben Kiste der andern, und gewöhnt sich allmählich daran, einen Wasserleitungsrohrbruch auf der Langenstraße wichtiger zu finden als die Wehrvorlage und ähnliche Nebensächlichkeiten.
Bald ist es soweit, daß er am Fernsprecher dienert, hat er die Ehre, mit der Hofkammer verbunden zu sein [...]. Er liest die dem Fürsten gehörende und von einem Hofkammerrate beoberaufsichtigte Landeszeitung; entrüstet sich, wenn das Stadthägener Wochenblatt sich erkühnt, im Briefkasten die allmächtige Hofkammer anzuöden, geht im Sommer nach dem fürstlichen Bade Eilsen und lauscht den etwas abgelagerten Weisen der fürstlichen Kapelle, kommt sich selbst wie verraten und verkauft vor, hat er in der benachbarten Großstadt Minden zu tun, deren Trubel ihn betäubt, fährt nie ohne seine Gattin nach Hannover, aus Angst, man könnte annehmen, er wollte sich dort dem Laster hingeben, und gewöhnt sich daran, selbst zu sich selber und im Schlafe kein Wort zu sagen, das irgendwo Anstoß erregen könnte.
Das tut man in Bückeburg nämlich sehr leicht. Wer, ohne ein Prinz zu sein, ungeplättete Hosen trägt, gilt als ein Geck. Wer im Winter nach Bad Eilsen geht und dort Kaffee trinkt, ist ein Verschwender. Wer im Gespräch Dinge, von denen man in der guten Gesellschaft nicht spricht und über die die Landeszeitung nicht berichten darf, erwähnt, wie zum Beispiel den Haldenbrand des fürstlichen Bergwerkes, durch den ganz Stadthagen verstänkert wird [...], der stößt auf eiskalte Gesichter und verschlossene Lippen, niemand prostet ihn mehr an, und erledigt ist er. [...]
Abgesehen [davon], läßt es sich in Bückeburg sehr ruhig leben, besonders, wenn man zur Gesellschaft gehört, und man kann es dort zu einem sehr hohen Alter bringen, der einzige Sport, der dort getrieben wird. Das kommt daher, daß dort noch viel mehr als anderswo die Bejahrtheit herrscht, weswegen sich die Jugend beizeiten schon eine gewisse pensionsfähige Würde aneignet, um nicht peinlich aufzufallen. So merken die alten Leute es weniger als anderenorts, daß sie alt werden, und werden deshalb schrecklich alt. Man wird dort freilich schnell alt, aber man bleibt es auch lange. Deshalb ist allen Leuten, die weiter nichts vom Dasein verlangen, auf das angelegentlichste zu empfehlen, sich dort niederzulassen und ein stilles Leben zu führen, ein Leben in Duodez.
Anmerkungen
Im Jahr 1907 war Hermann Löns von Hannover nach Bückeburg gezogen, wo er die Chefredakteurs-Stelle der »Schaumburg-Lippischen Landeszeitung« antrat. Es wurde ein Fiasko, das nach achtzehn Monaten mit seinem Rauswurf endete: »Gratulieren Sie mir! Man hat mich an die Luft befördert! Nun bin ich wieder ein freier Mann!« Zwei Jahre später indes folgte Hermanns Revanche: »Duodez«. Über Hermann Löns - siehe auch unter »Lüneburger Heide« (die er selber freilich notorisch mit »ai« schrieb) und »Hannover«.
Quelle
Hermann Löns, Duodezin: Mein niedersächsisches Skizzenbuch (Hrsg. W. Deimann), Hannover : Sponholtz, 1924, S. 14 - 22.