Drei Mann auf einem Bummel in Hannover
- 1900 -
Ein spritzig-britisches Fahrrad-Abenteuer
Aus irgendeinem Grunde kommt einem Hannover als Stadt zuerst uninteressant vor, aber dann gewinnt man es lieb. Es sind in Wirklichkeit zwei Städte; eine mit breiten, modernen, hübschen Straßen und geschmackvollen Gärten; Seite an Seite mit einer Stadt aus dem sechzehnten Jahrhundert, in der alte Fachwerkhäuser über die engen Gassen hängen; in der man durch niedrige Torbögen einen flüchtigen Blick in galeriegesäumte Höfe erhascht, die gewiß einst von Scharen drängelnder Pferde angefüllt oder von einer rumpelnden Kutsche mit Sechserzug versperrt waren, die auf ihren reichen, handeltreibenden Besitzer und dessen fette friedliche Frau wartete; in denen heute aber Kinder und Hühner nach Lust und Laune herumtollen, während von den geschnitzten Balkonen schäbige Kleidungsstücke zum Trocknen hängen.
Eine ausgesprochen englische Stimmung schwebt über Hannover; besonders am Sonntag, wenn die mit Holzläden versperrten Geschäfte und die klingenden Glocken einem den Gedanken an ein sonnigeres London eingeben. [...]
Um das reinste Deutsch zu lernen, sagt man, sollte man nach Hannover gehen. Der Nachteil ist der, daß außerhalb von Hannover, das nur eine kleine Provinz ist, niemand dieses reine Deutsch versteht. Somit mußt du dich entscheiden, ob du gutes Deutsch lernen und in Hannover bleiben oder schlechtes Deutsch lernen und herumreisen willst. Deutschland, seit Jahrhunderten in ein Dutzend Fürstentümer aufgespalten, hat unseligerweise eine Vielzahl von Dialekten. [...] Jede Provinz hat praktisch ihre eigene Sprache, auf die sie stolz ist und die sie bewahrt. Ein gebildeter Bayer wird dir zugeben, daß, rein akademisch gesehen, das Norddeutsche korrekter ist; dennoch wird er fortfahren, Süddeutsch zu sprechen und es seine Kinder zu lehren. Ich bin geneigt zu glauben, daß Deutschland im Verlauf des Jahrhunderts über diese Schwierigkeit hinwegkommt, indem es Englisch spricht. [...]
Der herrliche Wald der Eilenriede umgibt Hannover im Süden und Westen, und dort spielte sich ein düsteres Drama ab, in welchem Harris eine tragende Rolle innehatte.
Wir radelten am Montagnachmittag durch diesen Wald, gemeinsam mit vielen anderen Radfahrern, denn für die Hannoveraner ist er an sonnigen Nachmittagen ein beliebtes Ausflugsziel, und seine schattigen Pfade füllen sich dann mit fröhlichem, unbeschwertem Volk. Unter ihnen war ein junges und schönes Mädchen auf einem Fahrrad, das neu war. Sie war offenkundig eine Anfängerin auf dem Rad. Man fühlte instinktiv, daß der Augenblick kommen würde, in dem sie der Hilfe bedürfte, und Harris in seiner gewohnten Ritterlichkeit schlug vor, in ihrer Nähe zu bleiben. [...]
Wir waren ungefähr zwei Meilen gefahren, als wir vor uns auf einer Kreuzung, an der fünf Wege zusammenliefen, einen Mann sahen, der mit einem Schlauch die Straßen sprengte. Die Schlauchleitung, an jeder Verbindungsstelle von einem Paar winziger Räder gestützt, wand sich hinter dem Mann her wie ein riesiger Wurm. Aus dem offenen Schlund dieses Ungetüms schoß, während der Mann ihn mit beiden Händen umklammerte und ihn mal hierhin, mal dorthin, mal nach oben und mal nach unten richtete, ein kräftiger Wasserstrahl von mindestens einer Gallone in der Sekunde hervor.
»Das ist ja eine viel bessere Methode als die bei uns«, stellte Harris begeistert fest. Harris neigt dazu, allen britischen Einrichtungen gegenüber sehr streng zu sein. »Wieviel einfacher, schneller und wirtschaftlicher! Seht ihr, auf diese Art kann man in fünf Minuten ein Stück Straße besprengen, für das wir mit unseren schwerfälligen, rumpelnden Karren eine halbe Stunde brauchen!«
George, der hinter mir auf dem Tandem saß, sagte: »Ja, und außerdem ist es die Methode, mittels derer ein Mensch mit einem klein bißchen Sorglosigkeit eine ganze Menge Leute in kürzerer Zeit treffen kann, als sie brauchen, um sich in Sicherheit zu bringen.«
George ist, im Gegensatz zu Harris, britisch bis ins Mark. Ich erinnere mich, wie patriotisch empört George über Harris war, als der vorschlug, die Guillotine in England einzuführen.
»Sie ist soviel sauberer«, sagte Harris.
»Das ist mir gleich«, erwiderte George, »ich bin Engländer; für mich ist der Galgen gut genug.«
»Unser Wasserkarren mag seine Nachteile haben«, sagte George, »aber er kann dir höchstens an den Beinen Unbehagen bereiten, und das läßt sich vermeiden. Dies aber ist eine Apparatur, mit der dich der Mann um alle Ecken herum und sogar eine Treppe hinauf verfolgen kann.«
»Es fasziniert mich immer, diesen Leuten zuzuschauen«, sagte Harris. »Sie sind so geschickt.« [...]
»Halt mal eine Minute an«, sagte George.
Ich fragte: »Warum?«
Er erwiderte: »Ich will absteigen und mir den Rest der Vorführung aus der Deckung eines Baumes ansehen. Es mag auf diesem Gebiet, wie Harris sagt, großartige Virtuosen geben, aber mir scheint bei diesem Künstler irgendwas zu fehlen. Grad eben hat er einen Hund benäßt, und jetzt ist er dabei, einen Wegweiser anzuspritzen. Ich werde warten, bis er fertig ist.«
»Unsinn«, sagte Harris, »der macht dich nicht naß.«
»Genau dessen möchte ich mich versichern«, antwortete George, während er absprang und hinter einer bemerkenswert schönen Ulme Stellung bezog, wo er seine Pfeife hervorzog und sie zu stopfen begann.
Ich hatte keine Lust, das Tandem alleine zu übernehmen, also lehnte ich das Rad an einen Baum und gesellte mich zu ihm. Harris rief uns zu, daß wir eine Schande für das Land seien, das uns geboren habe, und fuhr weiter.
Im nächsten Augenblick hörten wir den Notschrei einer Frau. Als ich um den Baumstamm äugte, stellte ich fest, daß er von der bereits erwähnten schönen jungen Dame kam, die wir in unserem Eifer über den Straßensprenger vergessen hatten. Sie steuerte ihr Rad gleichmäßig und gerade durch einen alles durchdringenden Schauer-Strahl aus dem Schlauch. Anscheinend war sie zu verstört, um abzuspringen oder zur Seite zu fahren. Sie wurde mit jedem zurückgelegten Meter nässer, während der Mann am Schlauch - er mußte entweder betrunken oder blind sein - mit äußerster Gleichgültigkeit fortfuhr, Wasser über sie zu schütten. Dutzende von Stimmen riefen ihm Verwünschungen zu, von denen er nicht die geringste Notiz nahm.
Harris, in seiner väterlichen Natur zutiefst getroffen, unternahm jetzt das, was unter den waltenden Umständen das einzig Richtige und Vernünftige war. Hätte er während des gesamten Vorgangs mit der gleichen Gelassenheit und Umsicht gehandelt, die er anfangs bewies, so wäre er aus diesem Zwischenfall als Held des Tages hervorgegangen, statt, wie es dann geschah, unter Beleidigungen und Drohungen verschwinden zu müssen. Ohne einen Moment des Zögerns kurvte er auf den Mann zu, sprang ab und versuchte, den Schlauch am Mundstück zu packen und wegzuzerren.
Was er hätte tun sollen (und was jeder Besitzer eines gesunden Menschenverstandes in dem Augenblick getan hätte, in dem er das Ding in Händen hielt) wäre gewesen, die Spritze abzustellen. Danach hätte er den Mann nach Herzenslust zum Fuß- oder Federball-Spiel benutzen können: Die zwanzig, dreißig Leute, die zu seiner Unterstützung herbeigeeilt waren, hätten ihm noch applaudiert. Seine Absicht jedoch war, wie er uns später erklärte, dem Mann den Schlauch wegzunehmen und das Ding, zur Strafe, auf den Trottel selber zu richten. Offenbar aber hatte der Sprengmann denselben Gedanken, nämlich: den Schlauch als Waffe zu benutzen, um Harris damit durchzuweichen.
Das Ergebnis war natürlich, daß die beiden im Umkreis von fünfzig Metern jedes lebende oder tote Ding durchnäßten - außer sich selbst. Ein wütender Mann, zu naß, um sich noch darum zu kümmern, was mit ihm geschah, sprang in die Arena, um auch noch mitzumachen. Sie richteten den Schlauch gen Himmel, und das Wasser fiel mit der Gewalt eines Äquinoktialgewitters auf die Leute. Sie richteten ihn bodenwärts und verwandelten das Wasser in wilde Ströme, die den Leuten die Beine wegrissen, oder sie trafen sie in Hüfthöhe, daß sie sich krümmten.
Keiner von ihnen wollte den Schlauch loslassen, und keinem fiel ein, das Wasser abzustellen. Man hätte glauben können, sie kämpften mit irgendeiner Urkraft der Natur. Harris, der die Zeit gemessen haben will, behauptete später, daß sie in fünfundvierzig Sekunden den Platz von jeglichem Lebewesen freigelegt hätten, mit Ausnahme eines Hundes, der, triefend wie eine Wassernymphe, von der Gewalt des Strahls mal auf diese, mal auf jene Seite gerollt, sich immer wieder tapfer aufrichtete, um das anzubellen, was er offensichtlich für die losgelassenen Höllenmächte hielt.
Männer und Frauen ließen ihre Fahrräder am Boden liegen und flohen in den Wald. Hinter jedem bedeutenderen Baum spähten nasse, wütende Gesichter hervor. Schließlich erschien ein Mann von Vernunft auf dem Schauplatz. Allen Fährnissen mutig entgegentretend, kroch er zum Hydranten, in dem noch der eiserne Schlüssel steckte, und schraubte ihn zu. Und dann kamen hinter vierzig Bäumen mehr oder weniger durchnäßte menschliche Wesen hervor, von denen jedes etwas zu sagen hatte.
Als erstes überlegte ich, ob eine Tragbahre oder ein Wäschekorb geeigneter sei, um Harris' Reste ins Hotel zu überführen. Ich schätze, daß Georges Geistesgegenwart in diesem Falle Harris das Leben gerettet hat. Da er trocken war und daher schneller laufen konnte, war er vor der Menschenmenge da. Harris wollte ihm die ganze Geschichte erklären, aber George fiel ihm ins Wort: »Du steigst hier auf«, sagte er, wobei er ihm sein Fahrrad hinhielt, »und machst, daß du wegkommst. Sie wissen nicht, daß wir zusammengehören, und du kannst dich blind darauf verlassen, daß wir dieses Geheimnis nicht lüften werden. Wir werden hier noch ein bißchen herumtrödeln und ihnen im Weg sein. Fahr im Zickzack, falls sie schießen.«
Ich wünsche, daß dieses Buch ein peinlich genauer Tatsachenbericht bleibt, der nicht durch Übertreibungen verzerrt wird; und so habe ich meine Deskription dieses Vorfalls Harris zur Überprüfung vorgelegt, falls sich irgend etwas jenseits der nüchternen Erzählung eingeschlichten haben sollte. Harris hält die Beschreibung für übertrieben, gibt aber zu, daß ein oder zwei Leute »angesprüht« worden sein könnten. [...]
Ich habe ihm vorgeschlagen, noch einmal nach Hannover zu fahren und eine strenge Untersuchung der Angelegenheit durchzuführen, aber diesen Vorschlag lehnte er ab. Daraus schließe ich, daß ich einen zutreffenden und zurückhaltenden Bericht jenes Ereignisses gegeben habe, an das sich eine gewisse Anzahl Hannoveraner bis zum heutigen Tage voller Bitterkeit erinnern dürfte.
Wir verließen Hannover am gleichen Tag und trafen in Berlin rechtzeitig zum Abendessen und für einen kleinen Verdauungsbummel ein. Berlin ist eine enttäuschende Stadt.
Anmerkungen
Der britische Humorist Jerome K(lapka) Jerome war 1889 mit seinem Themse-Klassiker »Drei Mann in einem Boot« zum Weltruhm gerudert. Elf Jahre später schickte er die drei Gentlemen dann erneut auf Tour - diesmal nicht im Boot, sondern per Fahrrad über das europäische Festland (wobei die drei Herren George, Harris und Jerome ihre Räder, ein Tandem und ein Solo-Gefährt, auf größeren Transfer-Strecken aber durchaus im Gepäckwagen der Eisenbahn verstauen). »Drei Mann auf dem Bummel« erschien im Jahr 1900. Die erste Bummel-Station der drei Briten war Hamburg, die dritte Berlin. Dazwischen aber lag ihre Visite in Hannover samt dem Zusammentreffen mit der hannöverschen Stadtreinigungs-Kraft.
Quelle
Jerome K. Jerome, Drei Männer auf einem Bummel (Three Men on the Bummel, 1900), Ffm : Fischer, 1985, S. 66 - 75