Die Weltauffassung der Nuance
- 1936 -
Ein hannoversches Elternhaus zu wilhelminischen Zeiten
Nach der Geburtsurkunde Nr. 1287 vom 8. April 1878 des Standesbeamten des Standesamtes 1, Louis Schneider, bin ich am 1. April 1878 um 7.15 Uhr vormittags in Leipzig in der Brüderstraße 11, im Haus meiner Großmutter Francke, von meiner Mutter Rosa, Marie, Flora, meinem Vater, dem Bankier Carl Sternheim, wohnhaft zu Hannover, Georgsplatz 1b geboren; erhielt die Vornamen William, Adolf, Carl. Großeltern väterlicherseits waren der Bankier Julius Carl Sternheim und seine Frau, geborene Lessing.
Aus der Zeit in Hannover vom ersten bis sechsten Lebensjahr sind mir die weitläufigen Wohnungen in der Boedecker-Marienstraße erinnerlich, die Nachmittagsausflüge in die Gartenwirtschaft Tivoli zu Kaffee und Kuchen, das Café Robby auf der Georgstraße; wie ich meinen Vater, der außer Inhaber des Bankhauses Julius C. Sternheim, Eigentümer des Hannoverschen Tageblattes war, als Knirps auf meinen Parkettsessel in die Theater zu den Erstaufführungen begleitete, die er selbst in seiner Zeitung besprach, da meine Mutter mehr für ihr Haus als für Gesellschaftliches ihr ganzes Leben schwärmte.
Sie schenkte unverdrossen während dieser sechs Jahre meinem Vater in jedem ein Kind, uns ein Geschwister; so daß ich überzeugt war, es sei Regel, daß Eltern pünktlich alle Jahre ein Kind bekämen; was ich sinnvoll in der Schöpfung fand.
So wurden meine späteren Spielkameraden Mamy, Trude, Julius, Felix, Edith geboren; wie es meines Vaters älterer Bruder Hermann, der in Wernigerode im Harz ein hübsches Landhaus hatte, sich angelegen sein ließ, uns für den Sommer, den wir in seinem Hause verlebten, in seinen Kindern Leo, Melitta, Franziska Freunde zu schenken; der Aufenthalt dort mir den Hang zum deutschen Mittelgebirge mit Laubwäldern einbrachte; von dem mir der Brocken, auf den wir mit Eseln ritten, und seine Sagen in Erinnerung blieb.
Vor meinem Onkel, von dem es hieß, er sei der Dichtkunst hingegeben, hatte ich besondere Achtung; obwohl ich kaum noch wußte, was dieser Umstand wirklich bedeutete, machte er auf mich den ersten übernatürlichen Eindruck, unterschied den Onkel in meinem Weltbild auch darum von den übrigen Erscheinungen, weil in seinem Haus neben seiner Gattin, Tante Else, eine schöne blonde Dame, Tante Franziska, wohnte, über die kein Wort verlautete; die ich mir aber für einen Poeten über das Gang und Gäbe hinaus notwendig vorstellte.
Hannover hatte manches von seiner langen Zugehörigkeit zu England behalten; nicht nur, daß man die »A« der deutschen Sprache »Ä« wie im Englischen aussprach, zum Beispiel »Häsenbräten« oder »Ännä, bläse mäl!« Das bürgerliche Leben hatte in seiner Küche, Kindererziehung, vielem, was zum Haus gehört, einen englischen Zug. Den Unterschied spürte ich, kamen mütterliche Verwandte aus Sachsen, die einen drolligen, Vaters Freunde aus den übrigen Reichsteilen, die einen ungehobelten Zug hatten; auf mich fremdartig wirkten, als kämen sie aus andern Erdteilen mit anderen Sitten.
Hannover hatte die englische, moralische Sauberkeit; glasklaren Ausdruck für alles in der Welt; die Eltern achteten auf nichts so sehr, als daß wir ihnen früh durch Worte klipp und klar statt durch Gefühle unsere jungen Freuden, Leiden mitteilten, an denen sie entzückten Anteil nahmen.
Das Ankleiden der sechs Kinder morgens mit Hilfe des Kinderfräuleins war frommer Ritus. Das halbe Dutzend wurde in die Badewanne gesetzt, vom Fräulein reingebürstet; einer nach dem andern im Badetuch durch die offene Tür ins Nebenzimmer getragen, auf das Billard gesetzt, wo Mama mit großem Badelaken, »Bädeläken«, alles zu Ende blitzblank putzte.
Dann ging es an die Höschen, Röckchen, Jäckchen, Bänderchen und Schlipschen; zum Schluß bekam jeder von meiner Mutter einen zärtlichen Backenstreich, der sich bei peinlichen Umständen des einen oder anderen zur Backpfeife steigerte! Die Umstände fürchteten wir; denn während mein Vater nicht imstand war, einer Fliege ein Haar zu krümmen, war meine Mutter mit Ohrfeigen für die Kinder, das Personal immer bei der Hand; schreckte im schlimmsten Fall vor des Rohrstocks Benutzung nicht zurück. Doch murrte niemand zu Haus; sie schien von der Vorsehung zu solchem Tun befugt.
Mein Vater weihte uns in die Weltauffassung der Nuance ein, die ihm wie niemand, den ich im späteren Leben sah, eignete. Nirgends, nie genügte ihm der Durchschnitt; auf jedem Gebiet wollte er das präzis Vollendete, als hätte Gott ihn zum Aufpasser, daß dieses sein erstes Gebot auf Erden unbedingt erfüllt wurde, gesetzt. Unter anderem machte er die Einkäufe bei den Delikateßhändlern selbst. Die Geschäftsinhaber liebten und fürchteten ihn gleichmäßig, da seine Zungennerven untrüglich waren; er den geringsten Schwindel, Verfälschung herausschmeckte. Aus den ausgestellten Schüsseln nahm er mit den Fingerspitzen eine Kostprobe; gleich darauf sah ich in seinem Blick das Aufleuchten des entzückten Einverständnisses oder die Feststellung einer bis in den Kern seines Wesens gleitenden Enttäuschung. [...]
Das Elternhaus war für die Zeitverhältnisse im besten Sinn vorbildlich : lebte reichlich, wünschte den Nachbarn, der Stadt, dem Land das Gleiche. In Deutschland dachte damals kaum ein anderer anders, dachte aber auch nicht über Deutschland hinaus. Ein Österreicher, Franzose war, erschien er überhaupt, etwas, was man sich heute unter einem Grönländer vorstellt : ein Exorbitantes, sozusagen außerhalb des werktäglichen, sicheren Gesichtskreises stehend. Deshalb wirkte die Amme, die aus dem Spreewald für das vierte Kind genommen wurde, während die drei »Großen« aus der Mutterbrust mit das Beste, jedenfalls das Stück Originalität, das sie auszeichnen sollte, geschlürft hatten, heterogen; wurde von uns in ihrer Tätigkeit nicht ernst genommen; was auf unsere Schätzung der jüngeren Geschwister abfärbte; wir bildeten in Zukunft eine Phalanx gegen sie.
Unsere Charakterentwicklung war durch das Dasein meiner Mutter gewährleistet; denn man mußte, ihren unwiderruflichen Ansprüchen an unsere Willens- und naive Verstandeskraft zu genügen, jeden Augenblick auf der Hut sein. Unsere Vorstellungskraft wurde von der nicht stillstehenden, beflügelten Laune, unwiderstehlichen Vergnügtheit meines Vaters befeuert, der fortgesetzt Ratschläge zur Verbesserung alles Bestehenden gab; gewissermaßen die ganze Schöpfung, von den Staatsoberhäuptern angefangen, bis zum Briefträger, Milchmann mit heiliger Überzeugung maßregelte. Jede Sache war nur so oder so rund; er ruhte nicht, bis seine Kinder abends mit der Sicherheit ins Bett gingen : Papa hat die Welt, die außer Rand und Band schien, wieder vollkommen in die Reihe gebracht!
Im übrigen hat er mir die himmlische Vorurteilslosigkeit, daß jedes Ding unvergleichlich, gleich wertvoll war, ist und sein wird, beigebracht. Ein fehlendes Komma in einem Satz einer Schularbeit brachte ihn in den gleichen Harnisch wie ein Fehler, den, trotz seiner Verehrung für beide, Richard Wagner an einer Stelle seiner Musik, Bismarck bei einer Rede im Reichstag gemacht hatte.
Die Eltern verstanden sich prachtvoll in dem schmetternden Bewußtsein : das bürgerliche Zeitalter um 1885 in Deutschland sei mit keinem anderen zu keiner Zeit in keinem Erdteil annähernd zu vergleichen, daß Carl Sternheim, seiner Frau, geborenen Francke samt sechs Kindern alles ihren Vorzügen Gebührende reichlich gab. Darum wurde Gott nicht häufig angezogen, weil man a priori unter allen Umständen das größte Vertrauen zu ihm hatte. Ob am Georgsplatz, in der Boedecker-Marienstraße : Sternheims waren mit ihren drei-vier-fünf-sechs Göhren in jeder Beziehung proper, produktive Leute; die der Stadt Hannover, den als Spazieralleen geschätzten Wegen der Eilenriede zur Zierde gereichten.
Jedes Familienmitglied vom Jüngsten zum Ältesten brachte in jedem Wort, jeder Geste der Mitwelt gegenüber zum Ausdruck : es sei, in einem Kanaan zu leben, herztröstlich; und es prüfe der Mensch, daß er, kräftig genährt, danken für alles lern’; verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will! [...]
1884 war Hannover zu Ende. Was meine Eltern, nach Berlin überzusiedeln, Zeitung, Bankgeschäft aufzugeben, veranlaßte, weiß ich nicht.
Anmerkungen
Carl Sternheims hannoverscher Lebenslauf begann etwas später, als in seiner Geschichte angegeben. Schon die trickige Art, die Familienverhältnisse zur Zeit seiner Geburt darzulegen und dabei von seiner Mutter lediglich die Vornamen zu nennen, läßt es ahnen – Carl Sternheim (übrigens der Cousin Theodor Lessings), war ein voreheliches Kind, genau wie seine nächstjüngere, gleichfalls in Leipzig geborene Schwester Marie. Erst als seine Mutter das dritte Kind, Gertrud, erwartete heirateten die Eltern, und der Vater legitimierte seinen Nachwuchs als ehelich. Im Februar 1880 zog die Mutter dann mit ihren Kindern nach Hannover. Und so akribisch Sternheim den Meldebogen des Leipziger Standesamts wiedergibt – die obligaten Angaben über die Religionszugehörigkeiten hat er nicht erwähnt: beim Vater »mosaischen«, bei der Mutter »evangelischen Glaubens«. (Sternheim selber ließ sich 19jährig evangelisch taufen).
Was die Übersiedlung der Eltern nach Berlin anging, so wies schon Theodor Lessing in seiner Autobiographie auf den »Verfall« des »in Hannover angesehenen« Bankhauses Sternheim hin. Sternheim sen. betätigte sich dann in Berlin als Börsenmakler, machte aber 1912 definitiv Bankrott.
Quelle
Carl Sternheim, Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens (1936). In: Gesamtwerk. Herausgegeben von Wilhelm Emrich (ab Bd. 8 unter Mitarbeit von Manfred Linke). Neuwied-Berlin : Luchterhand, 1963ff; Bd. 10/I, S. 172 – 180.
Publikationen
Titel | Rubrik | Verlag, Verlagsort | Erscheinungsjahr | Erwähnte Orte |
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Gesamtwerk | Luchterhand Neuwied-Berlin | #1963 ff. | ###morelink### |