Die Glocke ruft »Mörder!«

 

- 1950 -

Aus: »Die Sagen des Landes Wursten«

Der Misselwardener Glockenguß

Südlich von Misselwarden liegt eine Hofstelle, die »Kapelle« genannt. Vor langen Jahren hat man bei einer Grabenreinigung an dieser Stelle eigenartige kupferne Gefäße gefunden, ähnlich unseren Suppenkümpen. Man vermutet, daß sie einst beim katholischen Gottesdienst benutzt worden sind. Die Kapelle ist auch die Stelle, an der im Jahre 1459 die schöne Misselwardener Glocke, die größte weit und breit, gegossen worden sein soll. Über den Guß der großen Misselwardener Glocke, der »Gloriosa« erzählt man sich folgendes:

Schon zweimal hatte Meister Gerd Klinge, dem die Misselwardener ihre Glocke in Auftrag gegeben hatten, den Versuch gemacht, eine Glocke zu gießen, die größer und schöner sein sollte als alle ihre Schwestern im Lande ringsum, aber beide Male war das Werk mißlungen. Wohl wurden die Glocken heil und wohlgeformt aus der Grube gehoben, doch wenn sie dann im Kirchtum hingen, vermochte der Küster ihnen nicht mehr als einen matten, wimmernden Ton zu entlocken.

So ging der Meister denn mißmutig und verdrossen an den dritten Versuch. Kern und Mantel waren in die Gießgrube gebracht und eben sollte mit dem Guß begonnen werden, da wurde der Meister mitsamt seinem Gesellen abgerufen. Allein der Lehrbube blieb als Wächter bei dem halbfertigen Werk zurück. Der Meister trug ihm auf, die Form sorgsam zu hüten. Diesmal, so hatte er sich vorgenommen, sollte das Werk auf jeden Fall gelingen.

Der Meister hatte sich noch nicht allzu lange entfernt, da schoß es dem Lehrling durch den Kopf, ob dem Meister nicht doch ein Kunstfehler unterlaufen sei. Er begann an der Form zu schaben und zu kratzen, bis der Schlagring stark abgeflacht war. Ja, nicht nur das. Wie ein richtiger Meister ritzte der Lehrbursche in den Mantel als Zeichen seiner Mitwirkung eine kleine Glocke.

Nach seiner Rückkehr begann der Meister alsbald mit dem Glockenguß. Wie bei den ersten mißglückten Versuchen schälte sich auch diesmal die Glocke wohlgebildet aus der Form. Wie sie dann aber an das Tageslicht emporgewunden wurde, fiel des Meisters Blick auf das eingeritzte Zeichen. Auch die Veränderung der Form entging ihm nicht. »Wer hat es gewagt, an mein Werk zu rühren?« rief er zornig. Zitternd und zagend kam der Lehrbube herbei. Gnadeflehend gestand er, was geschehen war. Aber Gerd Klinge hörte seine Worte kaum noch. Wie von Sinnen zog er seinen Dolch und durchbohrte mit ihm den vorwitzigen Gehilfen. In diesem Augenblick rührte der Geselle an die frei schwebende Glocke. Sie wimmerte nicht wie ihre Vorgängerinnen, sondern gab einen vollen tiefen Ton von sich. Aber dieser Ton machte den Meister schaudern. Deutlich glaubte er nunmehr ein Wort zu vernehmen, und dieses Wort lautete: »Mörder!« Jetzt erst kam dem Meister zum Bewußtsein, was er angerichtet hatte. Entsetzen packte ihn und trieb ihn hinaus in die Ferne. Zweck- und ziellos irrte er umher, bis er an den Deich kam. Aber auch da gab es keinen Halt. Geradenwegs lief er hinaus in die See, immer weiter, immer weiter, bis die Wogen den Schuldbeladenen verschlangen.

Noch heutzutage glauben die Alten aus dem Klang der »Gloriosa« die Worte »Mörder, Mörder!« herauszuhören.

 

Anmerkungen

 

Das Land Wursten, das Marschland nördlich von Bremerhaven, verdankt seinen Namen nicht etwa den »Würsten«, vielmehr seinen früh-friesischen Bewohnern, den »worsati« - den »Wurtsassen«: Wurten (in Nordfriesland: Warften) sind künstlich aufgeschüttete Hügel, auf denen dann - zum Schutz vor Sturmfluten - die Gehöfte errichtet wurden. Zu den markantesten Erscheinungen im Land Wursten gehören darüber hinaus die wuchtigen Dorfkirchen, deren Türme jahrhundertelang wesentliche Orientierungspunkte für die Schiffer waren. Die mächtigste, weithallendste Kirchenglocke wiederum besitzt Misselwarden. Erklärlich somit, daß sich eine der schaurigsten Sagen des Landes gerade daran knüpft - einer jener Sagen, die der Landrat, Heimatforscher (und langjährige Anführer der »Männer vom Morgenstern«) Benno Eide Siebs gesammelt und 1950 der Lesewelt kundgemacht hat.

 

Quelle

 

Benno Eide Siebs, Die Sagen des Landes Wursten, Bremerhaven : Finck, 1950, S. 11fSchriftartwechsel beabsichtigt!