Das Kollektiv der Massengesinnung
- 1973 -
Als Bibliothekar in Hannover
Nicht in Coimbra fand ich 1927 eine Anstellung als Bibliothekar, sondern in Hannover. Sie war lebenslänglich und hörte 1933 auf. Ich verdanke sie zwei überzeugten Demokraten. Der eine, ein hoher deutscher Beamter in Hannover, hat sich das Leben genommen, als Hitler zur Macht kam. Es fand sich eine schöne Wohnung in der Nähe des Waldes, und es schien alles gut, es wurde langsam alles schlechter, man merkte es nur nicht, wir waren jung, und ich hatte noch die Kraft, von vielem abzusehen, was mich ernst hätte machen müssen. Wohl sah ich die schwarze Wolke am Himmel, aber ich zog die grüne Erde vor. Meine Gedichte sagten schon alles, was der sie schrieb noch nicht zur Kenntnis nahm. Meine Mutter war tot, Paul war tot, Ernst war von einem, der seine kaufmännische Begabung erkannte, nach Stockholm gezogen worden. In meinem Amt war man kollegial, dennoch war die Distanz immer fühlbar, besonders am Stammtisch, wo sich Bibliothekare, Archivare, Museumsdirektoren einmal im Monat trafen, zu Bier und Politik und zu Witzen, die eher weinen machten als lachen. Wieder sah ich hier, obwohl im kleinsten Maßstabe, daß die Einzelnen waren, was sie waren, mehr oder weniger ernste Menschen, die sich unweigerlich in das Kollektiv der Massengesinnung verwandelten, wenn sie zusammenkamen. Ich saß dabei, hilflos. Ich paßte mich an, aber so, daß jeder merkte, daß ich mich nicht anpaßte. Man sprach vorsichtig, aber auch in der gesellschaftlich verbindlichsten Form hörte ich drohend das Kommende. Es war kaum mehr zu überhören. Es wuchs so lautlos wie schreiend. Die stillen Bürger wurden vor eine Entscheidung gestellt, sie fällten sie und sich. Es hatte aber noch gute und sehr böse Weile, bis sie es merkten.
Quelle
Werner Kraft, Spiegelung der Jugend. Ffm : Suhrkamp, 1973, S. 132f.
Publikationen
Titel | Rubrik | Verlag, Verlagsort | Erscheinungsjahr | Erwähnte Orte |
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Spiegelung der Jugend | Suhrkamp Frankfurt a.M. | #1973 | ###morelink### |