Bückeburg muß sich noch gedulden
- 1909 -
Eine Szene aus dem Schauspiel »Der Marquis von Keith«
[Das Stück spielt in München im Spätsommer 1899, der Erste Aufzug im Arbeitszimmer des Marquis von Keith. Die Personen im folgenden Ausschnitt sind
1. Der Marquis von Keith: Er ist ein Mann von ca. 27 Jahren, mittelgroß und knochig; er hätte eine musterhafte Figur, wenn er nicht auf dem linken Bein hinkte. Seine markigen Gesichtszüge sind nervös und haben zugleich etwas Hartes, stechende graue Augen, kleiner blonder Schnurrbart, das widerborstige, kurze, strohblonde Haar sorgfältig in der Mitte gescheitelt. Er ist in ausgesuchte gesellschaftliche Eleganz gekleidet, aber nicht geckenhaft. Er hat die groben roten Hände eines Clowns.
2.Molly Griesinger: Sie ist ein unscheinbares brünettes Wesen, etwas scheu und verhetzt, in unscheinbarer häuslicher Kleidung, hat aber große, schwarze, seelenvolle Augen.
3. Sascha: Diener
Die Szene ist – nach dem Abgang der verwitweten Gräfin Werdenfels – einen Augenblick leer: Dann kommt Molly Griesinger aus dem Wohnzimmer und räumt das Teegeschirr zusammen. Keith kommt vom Vorplatz zurück]
Keith ruft: Sascha! – Nimmt eines der Bilder von der Wand. Das muß mir über die nächsten vierzehn Tage hinweghelfen!
Molly: Du hoffst also immer noch, daß die Wirtschaft so fortgehen kann?
Sascha kommt aus dem Wartezimmer: Herr Baron?
Keith gibt ihm das Bild: Geh hinüber zum Tannhäuser. Er soll den Saranieff ins Fenster stellen. Ich gebe ihn für dreitausend Mark.
Sascha: Sehr wohl, Herr Baron.
Keith: In fünf Minuten komme ich selber. Warte! Er nimmt vom Schreibtisch eine Karte, auf der »3000 M.« steht, und befestigt sie unter den Rahmen des Bildes. Dreitausend Mark! – Geht zum Schreibtisch. Ich muß nur vorher rasch noch einen Zeitungsartikel darüber schreiben.
Sascha mit dem Bilde ab.
Molly: Wenn sich bei der Großtuerei nur auch einmal eine Spur von reellem Erfolg sehen ließe!
Keith schreibend: »Das Schönheitsideal der modernen Landschaft.«
Molly: Wenn dieser Saranieff malen könnte, dann brauchte man nicht erst Zeitungsartikel über ihn zu schreiben.
Keith sich umwendend: Wie beliebt?
Molly: Ich weiß, du bist wieder mitten in der Arbeit.
Keith: Wovon willst du reden?
Molly: Ich habe einen Brief aus Bückeburg.
Keith: Von deiner Mama?
Molly sucht den Brief aus der Tasche und liest : »Ihr seid uns jeden Tag willkommen. Ihr könnt die beiden Vorzimmer im dritten Stock beziehen. Ihr könnt dann in Ruhe abwarten, bis Eure Verhandlungen in München zum Abschluß gelangen.«
Keith: Siehst du denn aber nicht ein, mein liebes Kind, daß du durch solche Schreibereien meinen Kredit untergräbst?
Molly: Wir haben morgen kein Brot auf dem Tisch.
Keith: Dann speisen wir im Hotel Continental.
Molly: Da bringe ich nicht einen Happen hinunter vor Angst, daß uns der Gerichtsvollzieher derweil unsere Betten versiegelt.
Keith: Der überlegt sich das noch. Warum lebt in deinem Köpfchen kein anderer Gedanke als Essen und Trinken! Du könntest dich deines Daseins so unendlich mehr erfreuen, wenn du etwas mehr Würdigung für seine Lichtseiten hättest. Du hegst eine unbezähmbare Liebhaberei für das Unglück.
Molly: Ich finde, du hegst diese Liebhaberei für das Unglück! Anderen Menschen fällt ihr Lebensberuf zu leicht, sie brauchen keinen Gedanken daran zu denken. Dafür existieren sie eins fürs andere in ihrem behaglichen Heim, wo ihrem Glück nichts in die Quere kommt. Und du, bei all deinen Geistesgaben, wirtschaftest wie ein Rasender auf deine Gesundheit ein, und dabei ist tagelang nicht ein Pfennig im Haus.
Keith: Aber du hast doch noch jeden Tag satt zu essen gehabt! Daß du nichts für Toiletten ausgibst, ist wahrhaftig nicht meine Schuld. Sobald dieser Zeitungsartikel geschrieben ist, habe ich dreitausend Mark in der Hand. Dann nimm eine Droschke und kauf’ alles zusammen, worauf du dich im Augenblick besinnen kannst.
Molly: Der bezahlt dir für das Bild so gewiß dreitausend Mark, wie ich mir deinetwegen seidene Strümpfe anziehe.
Keith erhebt sich unwillig : Du bist ein Juwel!
Molly fliegt ihm an den Hals : Habe ich dir weh getan, mein Herz? Verzeih mir, bitte! Was ich dir eben sagte, das ist meine heiligste Überzeugung.
Keith: Wenn das Geld auch nur bis morgen abend reicht, dann werde ich das Opfer schon nicht zu bedauern haben!
Molly heulend : Ich wußte, wie häßlich es von mir war. Schlag mich doch nur!
Keith: Der Feenpalast ist nämlich so gut wie gesichert.
Molly: Dann laß mich wenigstens deine Hand küssen. Ich beschwöre dich, laß mich deine Hand küssen.
Keith: Wenn ich nur noch einige Tage meine Haltung bewahren kann.
Molly: Auch das nicht! Wie kannst du so unmenschlich sein!
Keith zieht die Hand aus der Tasche : Es wäre doch vielleicht nachgerade Zeit, daß du mit dir zu Rate gehst, sonst kommt die Erleuchtung plötzlich von selbst.
Molly seine Hand mit Küssen bedeckend : Warum willst du micht nicht schlagen? Ich habe es mir doch so redlich verdient!
Keith: Du betrügst dich um dein Lebensglück mit allen Mitteln, die eine Frau zu ihrer Verfügung hat.
Molly springt empört auf : Bilde dir doch nicht ein, daß ich mich durch deine Courmachereien in Schrecken jagen lasse! Uns beide umschlingt ein zu festes Band. Wenn das einmal reißt, dann halte ich dich nicht mehr; aber so lange du im Elend bist, gehörst du mir.
Keith: Das wird dir zum Verhängnis, Molly, daß du mein Glück mehr fürchtest als den Tod. Wenn ich morgen die Arme frei habe, dann hältst du es nicht eine Minute bei mir aus.
Molly: Dann ist ja alles gut, wenn du das weißt.
Keith: Ich bin aber in keinem Elend!
Molly: Erlaube mir nur so lange, bis du die Arme frei hast, noch für dich zu arbeiten.
Keith setzt sich wieder an den Schreibtisch : Tue, was du nicht lassen kannst! Du weißt, daß mir an einer Frau nichts unsympathischer ist, als wenn sie arbeitet.
Molly: Um deinetwillen mache ich noch keinen Affen und keinen Papagei aus mir. Wenn ich mich an den Waschtrog stelle, statt halbnackt mit dir auf Redouten zu fahren, so werde ich dich damit wohl nicht zugrunde richten.
Keith: Dein Starrsinn hat etwas Überirdisches.
Molly: Das glaube ich, daß das deine Kapazität übersteigt!
Keith: Wenn ich dich auch begriffe, damit wäre dir leider noch nicht geholfen.
Molly triumphierend : Ich brauchte es dir auch nicht auf die Nase zu binden, aber ich gebe es dir schwarz auf weiß, wenn du willst! Ich verdiente ja mein Lebensglück nicht, wenn ich mir dir gegenüber den geringsten Zwang antäte und mich besser geben wollte, als ich von Gott geschaffen worden bin – weil du mich liebst!
Keith: Das ist doch selbstverständlich.
Molly triumphierend : Weil du ohne meine Liebe nicht leben kannst! Hab’ darum auch nur die Arme frei, soviel du willst! Ob ich bei dir bleibe, das hängt davon ab, ob ich dir von deiner Liebe für andere Weiber etwas übrig lasse! Die Weiber sollen sich aufdonnern und dich vergöttern, soviel es ihnen Vergnügen macht; das spart mir die Komödien. Du hängtest dich lieber heute als morgen an deine Ideale; das weiß ich recht gut. Käme es je dazu – aber das hat noch gute Wege! – dann will ich mich lebendig begraben lassen.
Keith: Wenn du dich nur wenigstens des Glückes erfreuen wolltest, das sich dir bietet!
Molly zärtlich : Aber was bietet sich mir denn, mein süßer Schatz? Das war doch in Amerika auch immer dieser Schrecken ohne Ende. Alles scheiterte immer an den letzten drei Tagen. In Sankt Jago wurdest du nicht zum Präsidenten gewählt und wärst um ein Haar erschossen worden, weil wir an dem entscheidenden Abend keinen Brandy auf dem Tische hatten. Weißt du noch, wie du riefst : »Einen Dollar, einen Dollar, eine Republik für einen Dollar!«
Keith springt wütend auf und geht zum Diwan : Ich bin als Krüppel zur Welt gekommen. So wenig wie ich mich deshalb zum Sklaven verdammt fühlte, so wenig wird mich der Zufall, daß ich als Bettler geboren bin, je daran hindern, den allerergiebigsten Lebensgenuß als mein rechtmäßiges Erbe zu betrachten.
Molly: Betrachten dürfen wirst du den Lebensgenuß, solange du lebst.
Keith: An dem, was ich dir hier sage, ändert nur mein Tod etwas. Und der Tod traut sich aus Furcht, er könnte sich blamieren, nicht an mich heran. Wenn ich sterbe, ohne gelebt zu haben, dann werde ich als Geist umgehen.
Molly: Du leidest eben einfach an Größenwahn.
Keith: Ich kenne aber noch meine Verantwortung! Du bist als fünfzehnjähriges unzurechnungsfähiges Kind, von der Schulbank weg, mit mir nach Amerika durchgebrannt. Wenn wir uns heute trennen und du bleibst dir selbst überlassen, dann nimmt es das denkbar schlechteste Ende mit dir.
Molly fällt ihm um den Hals : Dann komm doch nach Bückeburg. Meine Eltern haben ihre Molly seit drei Jahren nicht gesehen. In ihrer Freude werfen sie dir ihr halbes Vermögen an den Kopf. Und wie könnten wir zwei zusammen leben!
Keith: In Bückeburg?
Molly: Alle Not hätte ein Ende!
Keith sich losmachend : Lieber suche ich Zigarrenstummel in den Cafés zusammen.
Sascha kommt mit dem Bild zurück : Der Herr Tannhäuser sagt, er kann das Bild nicht ins Fenster stellen. Der Herr Tannhäuser haben selbst noch ein Dutzend Bilder von dem Herrn Saranieff.
Molly: Das wußte ich ja im voraus!
Keith: Dafür bist du ja bei mir! – Geht zum Schreibtisch und zerreißt das Schreibpapier. Dann brauche ich doch wenigstens den Zeitungsartikel nicht mehr darüber zu schreiben!
Sascha geht, nachdem er das Bild auf den Tisch gelegt, ins Wartezimmer.
Molly: Diese Saranieffs, siehst du, und diese Zamrjakis, das sind Menschen von einem ganz anderen Schlag als wir. Die wissen, wie man den Leuten die Taschen umkehrt. Wir beide sind eben nun einmal zu einfältig für die große Welt!
Keith: Dein Reich ist noch nicht gekommen. Laß mich allein. – Bückeburg muß sich noch gedulden.
Anmerkungen
Frank (korrekt: Benjamin Franklin) Wedekind wurde am 24. Juli 1864 in Hannover, Große Aegidienstraße 13, geboren. Seine Eltern, der Arzt Dr. Friedrich Wilhelm Wedekind und dessen Frau Emilie, waren erst kurz zuvor aus Oakland/California zugezogen, wohin Dr. Wedekind, der aus Harste bei Göttingen stammte und in Hannover eine Zeitlang als Arzt praktiziert hatte, aus Enttäuschung über die fehlgeschlagene 48er-Revolution ausgewandert war. Da sich der Doktor auch in Hannover politisch unwohl fühlte, siedelte die Familie aber schon 1872 in die Schweiz über, die Heimat der Mutter. Frank Wedekinds niedersächsische Biographie umfaßte somit nur seine ersten acht Lebensjahre. Im Rahmen einer Norddeutschland-Tournee ist er später als Darsteller in einem seiner Stücke aber auch in Hannover aufgetreten. An seine Kinderzeit in Hannover erinnerte er sich zudem einmal im Jahr 1889, als er seinem älteren Bruder Armin aus Berlin schrieb:
Ich wohne hier in einer sehr angenehmen Gegend, zehn Minuten vom Thiergarten entfernt, in dem ich mich fast täglich einige Stunden begebe um zu lesen. Der Thiergarten und so manches andere erinnern mich auf das lebhafteste an Hannover. Es ist das was uns dort die Eilenriede war. Thiere befinden sich natürlich keine anderen darin als Mücken und Droschkenpferde. Eine freundliche Reminiscens erweckte es mir mitanzusehen, wie die Kinder hier auf ihren Spielplätzen, ganz gleich wie wir in Hannover, fast ausschließlich mit Dreck, d.h. mit Erde spielen. Sie graben dieselben Burgen wie wir vor 20 Jahren, bauen dieselben Höhlen über dem Fluß und verwandeln schließlich die ganze Anlage durch Bewässerung mit der Gießkanne in denselben chaotischen Quark. Diese angenehmen Empfindungen steigerten sich bei mir Zoologischen Garten, wo ich mich vor jeder Bestie wieder als kleiner Bengel fühlte. [17. Juni 1889]
Die wesentlichste Spur, die Niedersachsen im Oeuvre Frank Wedekinds hinterlassen hat, findet sich indes in seinem Schauspiel »Der Marquis von Keith« (das er selber für sein bestes hielt und dessen Titelrolle er mehrfach auf der Bühne verkörperte) – nämlich in der Bückeburger Herkunft der armen Molly, die im Schlußakt, ohne Bückeburg wiedergesehen zu haben, als Wasserleiche endet.
Am 9. März 1918 ist Frank Wedekind in München, an den Folgen einer Blinddarmoperation, gestorben.
Quelle
Frank Wedekind, Der Marquis von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen (1909). In: Ausgewählte Werke in 5 Bänden (Hrsg. Fritz Strich). Berlin : VdB, 1923, Bd. 3, S. 5 – 21.
Publikationen
Titel | Rubrik | Verlag, Verlagsort | Erscheinungsjahr | Erwähnte Orte |
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Ausgewählte Werke in 5 Bänden | Hg. Fritz Strich | VdB Berlin | #1923 | ###morelink### |