Anton Reiser kommt nach Braunschweig (1785)
Autor
Autorenportrait: Karl Philipp Moritz

Nun hieß es, der Hutmacher Lobenstein in Braunschweig wolle sich Antons wie ein Freund annehmen, er solle bei ihm wie ein Kind gehalten sein und nur leichte und anständige Arbeiten, als etwa Rechnungen schreiben, Bestellungen ausrichten und dergleichen übernehmen, alsdann solle er auch noch zwei Jahre in die Schule gehen, bis er konfirmiert wäre und sich dann zu etwas entschließen könnte.
Dies klang in Antons Ohren äußerst angenehm, insbesondre der letzte Punkt von der Schule; denn wenn er diesen Zweck nur erst erreicht hätte, glaubte er, würde es ihm nicht fehlen, sich so vorzüglich auszuzeichnen, daß sich ihm zum Studieren von selber schon Mittel und Wege öffnen müßten.
Er schrieb selber zugleich mit seinem Vater an den Hutmacher Lobenstein, den er schon im voraus innig liebte und sich auf die herrlichen Tage freute, die er bei ihm zubringen würde. Und welche Reize hatte die Veränderung des Orts für ihn!
Der Aufenthalt in Hannover und der ewige einförmige Anblick eben derselben Straßen und Häuser ward ihm nun unerträglich: neue Türme, Tore, Wälle und Schlösser stiegen beständig in seiner Seele auf, und ein Bild verdrängte das andre.
Er war unruhig und zählte Stunden und Minuten bis zu seiner Abreise. Der erwünschte Tag war endlich da. Anton nahm von seiner Mutter und von seinen beiden Brüdern Abschied, wovon der ältere, Christian, fünf Jahr und der jüngere, Simon, der nach dem Hutmacher Lobenstein genannt war, kaum ein Jahr alt sein mochte.
Sein Vater reiste mit ihm, und es ging nun halb zu Fuße, halb zu Wagen mit einer wohlfeilen Gelegenheit fort. Anton genoß jetzt zum ersten Male in seinem Leben das Vergnügen zu wandern, welches ihm in der Zukunft mehr wie zu häufig aufgespart war. Je mehr sie sich Braunschweig näherten, je mehr war Antons Herz voll Erwartung. Der Andreasturm ragte mit seiner roten Kuppel majestätisch hervor. Es war gegen Abend. Anton sah in der Ferne die Schildwache auf dem hohen Walle hin und her gehen. Tausend Vorstellungen, wie sein künftiger Wohltäter aussehen, wie sein Alter, sein Gang, seine Mienen sein würden, stiegen in ihm auf und verschwanden wieder. Er setzte endlich von demselben ein so schönes Bild zusammen, daß er ihn schon im voraus liebte.
Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eignen Namen von Personen oder Städten zu sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch bezeichneten Gegenständen veranlaßt zu werden. Die Höhe oder Tiefe der Vokale in einem solchen Namen trug zur Bestimmung des Bildes das meiste bei. So klang der Name Hannover beständig prächtig in seinem Ohre, und ehe er es sahe, war es ihm ein Ort mit hohen Häusern und Türmen und von einem hellen und lichten Ansehen.
Braunschweig schien ihm länglicht, von dunklerm Ansehen und größer zu sein, und Paris stellte er sich nach eben seinem solchen dunklen Gefühle bei dem Namen vorzüglich voll heller weißlichter Häuser vor. [...]
Bei dem Namen Lobenstein dachte sich Anton ohngefähr einen etwas langen Mann, deutsch und bieder, mit einer freien offnen Stirne usw. Allein diesmal täuschte ihn seine Namendeutung sehr.
Es fing schon an dunkel zu werden, als Anton mit seinem Vater über die grossen Zugbrücken und durch die gewölbten Tore in die Stadt Braunschweig einwanderte. Sie kamen durch viele enge Gassen, vor dem Schlosse vorbei und endlich über eine lange Brücke in eine etwas dunkle Straße, wo der Hutmacher Lobenstein einem langen öffentlichen Gebäude gegenüber wohnte.
Nun standen sie vor dem Hause. Es hatte eine schwärzliche Außenseite und eine große schwarze Tür, die mit vielen eingeschlagenen Nägeln versehen war. Oben hing ein Schild mit einem Hute heraus, woran der Name Lobenstein zu lesen war. Ein altes Mütterchen, die Ausgeberin vom Hause, eröffnete ihnen die Tür und führte sie zur rechten Hand in eine große Stube, die mit dunkelbraun angestrichnen Brettern getäfelt war, worauf man noch mit genauer Not eine halb verwischte Schilderung von den fünf Sinnen entdecken konnte.
Hier empfing sie denn der Herr des Hauses. Ein Mann von mittlern Jahren, mehr klein als groß, mit einem noch ziemlich jugendlichen, aber dabei blassen und melancholischen Gesichte, das sich selten in ein andres als eine Art von bitter= süßem Lächeln verzog, dabei schwarzes Haar, ein ziemlich schwärmerisches Auge, etwas Feines und Delikates in seinen Reden, Bewegungen und Manieren, das man sonst bei Handwerksleuten nicht findet, und eine reine, aber äußerst langsame, träge und schleppende Sprache, die die Wort wer weiß wie lang zog, besonders wenn das Gespräch auf andächtige Materien fiel: auch hatte er einen unerträglich intoleranten Blick, wenn sich seine schwarzen Augenbrauen über die Ruchlosigkeit und Bosheit der Menschenkinder und insbesondere seiner Nachbarn oder seiner eigenen Leute zusammenzogen.
Seine vorgefaßte Liebe erlosch, als wenn Wasser auf einen Funken geschüttet wäre, da ihn die erste kalte, trockne, gebieterische Miene seines vermeinten Wohltäters ahnden ließ, daß er nichts weiter wie sein Lehrjunge sein werde.Anton erblickte ihn zuerst in einer grünen Pelzmütze, blauem Brusttuch und braunen Kamisol drüber nebst einer schwarzen Schürze, seiner gewöhnlichen Hauskleidung, und es war ihm beim ersten Blick, als ob er in ihm einen strengen Herrn und Meister statt eines künftigen Freundes und Wohltäters gefunden hätte.
[...]
Anton fing wieder an, des Sonntags für sich allein spazieren zu gehen, und einmal fügte es sich, daß er, ohne es erst selbst zu wissen, gerade an das Tor kam, wo er vor ohngefähr anderthalb Jahren mit seinem Vater zuerst von Hannover eingewandert war. Er konnte sich nicht enthalten, hinauszugehn und die mit Weiden bepflanzte breite Heerstraße zu verfolgen, die er damals gekommen war. Sonderbare Empfindungen entwickelten sich dabei in seiner Seele. - Sein ganzes Leben von jener Zeit an - da er zuerst die Schildwache auf dem hohen Walle hin und her gehend erblickte und sich allerlei Vorstellungen machte, wie nun wohl die Stadt inwendig aussehen und das Lobensteinsche Haus beschaffen sein würde - stand jetzt auf einmal in seiner Erinnerung da. - Es war ihm, als ob er aus einem Traume erwachte - und nun wieder auf dem Flecke wäre, wo der Traum anhub; - alle die abwechselnden Szenen seines Lebens, die er diese anderthalb Jahre hindurch in Braunschweig gehabt hatte, drängten sich dicht ineinander, und die einzelnen Bilder schienen sich nach einem größern Maßstabe, den seine Seele auf einmal erhielt, zu verkleinern. -
So mächtig wirkt die Vorstellung des Orts, woran wir alle unsre übrigen Vorstellungen knüpfen. - Die einzelnen Straßen und Häuser, die Anton täglich wieder sahe, waren das Bleibende in seinen Vorstellungen, woran sich das immer Abwechselnde in seinem Leben anschloß, wodurch es Zusammenhang und Wahrheit erhielt, wodurch er das Wachen vom Träumen unterschied.
In der Kindheit ist es insbesondre nötig, daß alle übrigen Ideen sich an die Ideen des Orts anschließen, weil sie gleichsam in sich noch zu wenig Konsistenz haben und sich an sich selber noch nicht festhalten können. [...] Ist es also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu machen?
In späteren Jahren und insbesondre, wenn man viel gereist ist, verliert sich das Anschließen der Ideen an den Ort in etwas. Wo man hinkömmt, sieht man entweder Dächer, Fenster, Türen, Steinpflaster, Kirchen oder Türme, oder man sieht Wiese, Wald, Acker oder Heide. - Die auffallenden Unterschiede verschwinden; die Erde wird sich überall gleich. -
Wenn Anton in Braunschweig auf der Straße ging, so war es ihm besonders des Abends im Anfange der Dämmerung manchmal plötzlich wie im Traume. - Auch pflegte sich dies bei ihm zu ereignen, wenn er in irgendeine Straße ging, die ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Straße in Hannover zu haben schien. - Dann deuchte ihm einige Augenblicke sein Zustand in Hannover wieder gegenwärtig; die Szenen seines Lebens verwirreten sich untereinander.
Bei seinen Spaziergängen fand er nun immer einen besondern Reiz darin, Gegenden in der Stadt aufzusuchen, wo er noch gar nicht gewesen war. Seine Seele erweiterte sich dann immer, es war ihm, als ob er aus dem engen Kreise seines Daseins einen Sprung gewagt hätte; die alltäglichen Ideen verloren sich, und große angenehme Aussichten, Labyrinthe der Zukunft eröffneten sich vor ihm.
Allein es war ihm noch nie gelungen, sein ganzes Leben in Braunschweig mit allen seinen mannigfaltigen Veränderungen in einen einzigen vollen Blick zusammenzufassen. Der Ort, wo er sich jedesmal befand, erinnerte ihn immer zu stark an irgendeinen einzelnen Teil desselben, als daß noch für das Ganze in seiner Denkkraft Platz gewesen wäre; er drehete sich mit seinen Vorstellungen immer in einem engen Zirkel seines Daseins herum.
Um von dem Ganzen seines hiesigen Lebens ein anschauliches Bild zu haben, war es nötig, daß gleichsam alle Fäden abgeschnitten wurden, die seine Aufmerksamkeit immer an das Momentane, Alltägliche und Zerstückte desselben hefteten; und daß er zugleich in den Standpunkt wieder versetzt wurde, aus welchem er sein Leben in Braunschweig betrachtete, ehe er es anfing, da es noch wie eine dämmernde Zukunft vor ihm lag.
In diesen Standpunkt wurde er nun gerade versetzt, da er zufälligerweise aus dem Tore ging, durch welches er vor ohngefähr anderthalb Jahren auf der breiten, mit Weiden bepflanzten Heerstraße hereingekommen war und die Schildwache auf dem hohen Walle hatte hin und her gehen sehen.
Dieser Ort mußte es gerade sein, der ihn durch die plötzliche Erinnerung an tausend Kleinigkeiten gerade in den Zustand wieder zu versetzen schien, worin er sich unmittelbar vor dem Anfange seines hiesigen Lebens befand. - Alles, was dazwischen lag, mußte sich nun in seiner Einbildungskraft zusammendrängen, wie Schatten ineinandergehen, einem Traum ähnlich werden. Denn sein jetziges Dastehen auf der Brücke und den Hohen=Wall=hinaufsehen, wo die Schildwache stand, schloß sich dicht an sein Dastehen und den Hohen=Wall=hinaufsehen vor anderthalb Jahren an. Die Vergangenheit, alle Szenen des Lebens, das Anton in Braunschweig geführet hatte, stellte er sich jetzt wieder vor, wie er sie sich damals vor anderthalb Jahren noch als zukünftig gedacht hatte, und die zu lebhafte Vorstellung und Wiedererinnerung des Orts machte, daß die Erinnerung an den Zwischenraum der Zeit, welche unterdes verflossen war, verlosch oder schwächer wurde - anders wenigstens läßt sich wohl schwerlich das Phänomen jener sonderbaren Empfindung erklären, die Anton damals hatte, und die ein jeder wenigstens einige Male in seinem Leben gehabt zu haben sich erinnern wird.
Mehr als zehnmal stand Anton auf dem Punkte, nicht wieder in die Stadt zurückzukehren, sondern gerade den Weg vor sich hin wieder nach Hannover zu gehen, wenn ihn nicht der Gedanke an Hunger und Kälte wieder zurückgeschreckt hätte.
Aber von dem Tage an blieb der Vorsatz fest bei ihm, im Lobensteinschen Hause nicht länger mehr zu bleiben, es koste auch, was es wolle. Er wurde daher auch gegen alles gleichgültiger, weil er sich vorstellte, daß es nun nicht lange mehr so dauren würde. Lobenstein selbst fing nun an, seiner so überdrüssig zu werden, daß er endlich nach Hannover an Antons Vater schrieb, dieser möchte seinen Sohn, mit dem nichts anzufangen wäre, nur immer wieder abholen.
Anmerkungen
In »Anton Reiser. Ein psychologischer Roman« schildert Moritz seine bedrückte Kindheit und Jugend sowie seine ersten Erwachsenenjahre. Das beeindruckend selbstanalytische Erzählwerk erschien in vier Teilen von 1785 bis 1790. Im Ersten Teil des Romans protokolliert Moritz dabei unter anderem die Zeit, die sein Buch-»Alter Ego« Anton Reiser in Braunschweig zubringt als quasi-Lehrling beim frömmelnden Hutmacher Lobenstein. Der obige Text bringt daraus - leicht gekürzt - zwei charakteristische Auszüge.
Quelle
Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman (1795 - 1790), Leipzig, Insel, 1959, S. 48 - 51, S. 79 - 83