Veranstaltungs-Archiv

20.05.21 - 19.30 Uhr –

Podcast "Position und Stimme des Opfers": Folge 1

Forschungskolloquium der Leibniz Universität Hannover // Leitung: Dr. Saskia Fischer & Prof. Dr. Matthias Lorenz

Die Frage, wer ein Opfer ist und was diese Zuschreibung impliziert, bestimmt viele kulturelle und gesellschaftliche Debatten. Es zeigt sich, dass Kontroversen über Position und Stimme von Opfern die Art und Weise der Erinnerung immer auch deuten und zur Disposition stellen die Beschäftigung mit Formen struktureller und kollektiver Gewalt genauso.

Die Vorträge der sechs Podcastfolgen widmen sich der komplexen und umkämpften Bedeutung des Opfers in der Literatur und Kunst und damit ihrer Interpretation als Figur zwischen Selbstbehauptung, Instrumentalisierung und Verstummen. Die literaturwissenschaftliche Perspektive ergänzt der Autor und Aktivist Max Czollek mit einer Lesung.

Folge 1:

Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll (1971) heißt ein Werk des österreichischen Juristen und Schriftstellers Albert Drach, der für seinen literarischen Protokollstil bekannt wurde. Dieser Stil – er gilt als eine Erfindung Drachs – ahmt die Aktensprache der Bürokratie und ihre Idiosynkrasien nach, geht jedoch noch darüber hinaus: Denn bei Drach werden die Aussagen der Beschuldigten ausgespart, um mit den Tautologien und Scheinlogiken der Ermittler den Mechanismen eines amtlichen Sprechens über Subjekte auf die Spur zu kommen. Egal ob in Drachs Untersuchung an Mädeln oder in seinem anderen großen, bereits 1939 verfassten, aber erst 1964 veröffentlichten Roman Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum – sein indirekter und dennoch ausdurcksvoller Stil wirft ein Licht auf das Protokoll als einer äußerst verfänglichen und in der Regel gegen das betreffende Subjekt operierenden Textsorte.

Wer aber sind die verdächtigen Subjekte in Drachs Romanen: „Mädel“, „Juden“, Richter, Protokollführer? Ausgehend von dieser Frage untersucht der Vortrag, in welcher Relation die protokollierende Instanz zum Subjekt als "Gegenstand" der Verhandlung steht und was amtlicher Stil und Rhetorik mit Vorverurteilung zu tun haben. Aus Drachs obsessiver Hinwendung zum Protokoll spricht in jedem Fall der Verdacht gegen das Genre selbst.

Mona Körte ist seit 2018 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie europäisch-jüdische Literatur an der Universität Bielefeld. Zuvor hat sie an verschiedenen Universitäten, u. a. am Centrum für jüdische Studien der Karl Franzens-Universität Graz, an der University of Virginia/Charlottesville, USA und der Universität Konstanz, gelehrt. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen neben der deutsch/europäisch-jüdischen Literatur der Moderne die Themen Materialität der Schrift, Exil und Mehrsprachigkeit, Literatur und Holocaust, Epistemologie der Dinge und der Sammlung, retrogrades Erzählen in Literatur und Film.

Der Podcast zum Forschungskolloquium "Position und Stimme des Opfers" wird in Kooperation mit der Lebniz Universität Hannover produziert und vom Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert. Folge 1 finden Sie ab sofort kostenlos unter www.literaturhaus-hannover.de/podcast.