Viel Lärm in Hildesheim

- 1788 -

Aus: »Die Reise nach Braunschweig«

»Braunschweig, den 2. August 1788. Den Zehnten dieses Monats wird der berühmte Luftschiffer Herr Blanchard mit einem großen und schönen Ballon aus unserer Stadt in die Höhe fahren. Der Zusammenfluß der Fremden, welche dieses bewundernswürdige Schauspiel herbeilockt, wird an diesem Tage außerordentlich sein, indem schon jetzt in den mit Meßleuten angefüllten Gasthöfen fast kein Zimmer mehr leer ist.«

Nachdem Pastor Schottenius nun deutlich auseinandergesetzt hatte, was für eine Bewandtnis es mit solchen Luftfuhrwerken hätte, erscholl aus einer Ecke des Zimmers eine Stimme, welche rief: »O Papa! Lassen Sie uns doch hinreisen nach Braunschweig und das Ding mit ansehen!« Diese Stimme kam von sonst niemand als dem jungen Herrn Valentin Waumann, dem eheleiblichen Sohn des Herrn Amtmanns, her. Dieser liebenswürdige Jüngling hatte damals sein Alter auf zirka dreiundzwanzig Jahre gebracht, war ein breitschultriger Junggeselle, in der christlichen Religion auferzogen und nachher der edlen Landwirtschaft zugetan und gewidmet, welcher er sich auch so eifrig ergab, daß sein Herr Vater die Absicht hegte, ihm ein benachbartes Vorwerk, das er mit gepachtet hatte, nebst dem Inventario an Kühen, Schweinen, Pferden, instrumentis rusticis und einer für ihn ausgesuchten Gattin nächstens zu übergeben. Musjö Valentin war nie über die Grenzen des Amtes Biesterberg hinausgekommen, obgleich der Amtmann oft versprochen hatte, einmal, bevor der junge Herr sich in den Stand der heiligen Ehe begäbe, mit ihm eine Fahrt von einigen Tagereisen zu machen, um in Hildesheim, Braunschweig, Hannover und anderen schönen Städten in der Nachbarschaft die Welt mit ihren Merkwürdigkeiten zu sehen.

Als der junge Herr nun, wie gesagt, in der Ecke saß, wo er sich beschäftigte, neue Kerbhölzer für die Dienstleute zu schnitzeln, und er dort von den Zeichen und Wundern hörte, welche in Braunschweig in wenig Tagen geschehen sollten, erinnerte er seinen Papa an das Versprechen der Reise. Die Frau Amtmann, deren Liebling dies einzige Söhnchen war, unterstützte sein Gesuch; und so wurde denn kurz und gut beschlossen, am nächstkünftigen Sonnabend, als dem Tag vor der großen Luftbegebenheit, die Reise nach Braunschweig, beliebt' es Gott, zu unternehmen.

»Potz Element!« rief der Förster aus, »Herr Amtmann! da reise ich mit; ja! so tue ich, und von da fahre ich auf dem Rückwege die paar Meilen weiter über Goslar, wo ich doch hin muß, um meine Grete aus der Pensjon abzuholen. Sie verstehen mir, Herr Amtmann! Und darüber wird denn Musjö Valentin auch nicht böse werden, denke ich so, ha, ha! Und unser Herr Pastor muß auch mit und muß uns in seine halbe Schäse tun; denn weil ich sonst mant immer reite, so habe ich keine eigene Karrete, und so aber, so fahren wir in zwei Kutschen; und was der Herr Pastor verzehrt, das bezahle ich, ja! das tue ich.«

Ehren Schottenius war leicht zu bereden, diesen Vorschlag anzunehmen; der Kandidat Krebs aus Möllenthal hatte sich ohnehin die Erlaubnis erbeten, am nächsten Sonntag in Biesterberg predigen zu dürfen, und außer dem Vergnügen der Reise gab diese kostenfreie Lustfahrt dem Pastor noch Gelegenheit, einen längst gehegten Vorsatz auszuführen, nämlich den, sich in Braunschweig nach einem Verleger für seine siebenundfünfzig Predigten umzusehen. Es kam nur noch auf eine Kleinigkeit an, auf die Einwilligung der Frau Pastor; da indessen diese selbst gegenwärtig war und, neben der Frau Amtmann sitzend, eben die fünfte Tasse Kaffee auf vielfältiges Bitten sich hatte wohlschmecken lassen, so ließ sich die Sache bald ins Reine bringen. »Ja, was meinst du zu dem Vorschlag, mein Schatz?« sprach der Pastor und sah nach den kleinen schwarzen Äuglein seiner Gebieterin, ob sie zürnten oder lächelten. »I nun, da du mit so guter Gelegenheit umsonst hinkommst, warum nicht?« - So war's denn richtig; alles wurde gehörig verabredet, und bald nachher trennte sich die Gesellschaft.

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Die liebe Sonne hatte am Neunten des August kaum den ersten Blick in das enge Tale geworfen, in welchem, an eine kleine Anhöhe gelehnt, das Dorf Biesterberg mit seinen schönen Amtsgebäuden lag; die Hähne auf den Bauernhöfen weckten krähend ihre Damen aus dem Schlaf; der Schulmeister stand, im Kamisol ohne Ärmel, unten im Turm und zog gähnend die Betglocke; die Knechte schlichen schwerfällig aus den Ställen hervor und klopften die Lünzen an den Erntewagen zurecht; die Hirten bliesen in ihr Horn und gaben durch Klatschen das Zeichen, worauf die Mägde mit bloßen Beinen erschienen und mit aufgerafften Reisern in den Händen das Vieh von den Höfen hinuntertrieben - da war schon im Amtshaus, auf dem Pfarrhof und in des Försters Wohnung alles auf den Beinen. Des Herrn Amtmanns ehrwürdiger Reisewagen stand geschmiert und bepackt vor der Tür, der Gärtner Caspar bürstete an dem gelben geblümten Plüsch, womit der Wagen ausgeschlagen war, und die Haushälterin steckte Butterbrot und eine gebratene Rehkeule in die Seitentasche. Oben am Fenster des Eckzimmers stand der alte Herr reisefertig angekleidet, in Stiefeln mit Stiefelmanschetten und umgürtet mit einem Hirschfänger; Musjö Valentin war unter den Händen seiner Mutter, die ihm die schwarze Halskrause umband und die blaue Seidenweste, welche zu eng geworden war, hinten aufschnitt. Er sah stattlich aus, der junge Herr, in seinem perlfarbnen Rock, die Haare weiß eingepudert, hinten in einen langen dünnen Zopf gebunden.

»Spann an, Konrad!« rief dann der Amtmann zum Fenster heraus seinem Kutscher zu, der schon in der grauen Livree mit grünem Kragen, worauf eine silberne Tresse prangte, um die Kutsche herumging. »Spann an! Aber ich wette, am Pastor liegt es wieder; der wird zu lange geschlafen haben.« - Ungerechte Beschuldigung! Ehren Schottenius ging schon seit mehr als einer Stunde, vom Kopf bis zu den Füßen schwarz und vollständig angekleidet - bis auf die Perücke, die er noch nicht gegen die weiße Nachtmütze vertauscht hatte -, mit einer Pfeife Tabak vor seinem Hause auf und nieder. Vor seiner in der Tat sehr demütigen, grünen halben Chaise, die mit einem Rücksitz versehen war, standen schon die vom Förster geschickten Nachbarspferde angespannt. Nun kam auch dieser, nachdem er seinen Schnaps genommen hatte, herbei; die geistliche Perücke wurde aufgesetzt, der blaue Überrock angezogen; man ging nach dem Amtshaus; das wackelnde Fuhrwerk folgte nach und rasselte auf dem Steinpflaster; alles im Dorf kam an die Fenster. Im Amtshof waren indessen die vier schwarzbraunen Wallache angeschirrt worden. Man nahm Abschied, stieg ein. »Nun fahrt zu, in Gottes Namen!« rief der Pastor; man ließ ihn und den Förster in ihrem Fuhrwerk voraus; und so ging es denn auf dem Wege nach Hildesheim fort. [...]

So ging die Zeit hin bis gegen Mittag, da die Gesellschaft in ein Dorf eine Meile von Hildesheim kam, wo man dann Anstalt machte, Pferde und Menschen mit einem ordentlichen Futter zu versehen, weil man da wohlfeiler zu zehren hoffte als in der bischöflichen Residenz. Man fragte die Wirtin, was sie auf den Tisch liefern könnte, und sie bekam Anweisung auf eine Biersuppe und ein großes Stück frisch gekochtes Pökelfleisch; der Herr Amtmann aber vergrößerte diesen Küchenzettel durch Bestellung eines dicken Pfannkuchens. Indes nun zu diesem letzteren Anstalt gemacht wurde, worüber wohl eine Stunde verstrich, weil die Pfanne nicht sogleich zu finden war - indem der Knecht dieselbe gebraucht hatte, um darin einen warmen Umschlag für eines der Pferde zu bereiten -, entstand in der Schlafkammer des Wirtes ein fürchterlicher Lärm und Zank. Der Herr Pastor glaubte sich berufen zu fühlen, hier vielleicht das Amt eines Friedensrichters übernehmen zu können, und ging in das Zimmer. Er fand den Hausherrn äußerst ergrimmt über sein Eheweib, welches, um das geräucherte Rindfleisch, das den angekommenen Gästen vorgesetzt werden sollte, warm zu halten, ihres Mannes ledernes Beinkleid darüber gedeckt hatte. Er hatte es eben anziehen wollen, und nun fand er es ausgespannt und rauchend.

Man kann sich leicht vorstellen, daß alle diese Zubereitungen zu dem bestellten Gastmahl bei unseren Reisenden nicht viel Appetit erweckten. Sobald daher die Rossse gefüttert waren, ließ man wieder anspannen, und die Gesellschaft fuhr fort nach Hildesheim, wo sie in dem berühmten Gasthof des Herrn Lauenstein abtrat, den sie im Schlafrock, eine Pfeife in der Hand und eine graue Mütze auf dem Haupt, auf dem Vorplatz spazierend antrafen. Da man noch zeitig genug zu dem auf folgenden Nachmittag angekündigten großen aerostatischen Schauspiel in Braunschweig sein konnte, wenn man sonntags früh aus Hildesheim fuhr und das Mittagessen in Peina einnahm, so beschloß man, bis zum andern Morgen in jener merkwürdigen Stadt zu verbleiben. Die Pferde wurden zurückgeschickt, weil sie bei der Ernte nötig waren, und man bestellte sich Postpferde.

Ein deutscher Original-Roman und ein deutsches Original-Schauspiel sind sehr geschmacklos, wenn nicht darin von Mahlzeiten die Rede ist, und je weniger der Autor oft selbst zu verzehren hat, desto herrlicher läßt er die Personen seiner Schöpfung speisen und trinken. Ich hoffe daher, meine Leser werden mir's nicht ungnädig aufnehmen, daß ich mitunter sehr viel von den Magenangelegenheiten meiner Reisenden rede. Wir wollen ihnen nun noch in Hildesheim etwas Gebacknes zum Kaffee reichen lassen, um sie für die schlechte Mittagstafel zu entschädigen, und dann mögen sie es aushalten bis zum Abend und sich unterdessen ein wenig in der Stadt umsehen. Wirklich taten sie das, gingen in den Dom und von da in andere Kirchen und Klöster, begafften die Häuser, die ihrer Meinung nach schön gebaut waren, deuteten mit den Fingern auf alles, was ihnen merkwürdig vorkam, zogen vor jedem wohlgekleideten Mann die Hüte ab und blieben voll Verwunderung stehen und sahen hinterdrein, wenn ihnen ein schmutziger Kapuziner oder ein anderer Mönch begegnete.

Ermüdet vom ungewohnten städtischen Steinpflaster, kehrten sie zurück in das Wirtshaus und traten in das allgemeine Gastzimmer, dessen Fenster nach dem Hof hinausgingen. Der Herr Amtmann forderte eine Bouteille Bier nebst Pfeifen; aber kaum hatten sie die Tür geöffnet, als ihnen ein so fürchterlicher Lärm entgegentobte, daß sie zurückprallten und gar nicht den Mut gehabt haben würden, einzutreten, wenn ihnen nicht ein Mann mit einer Baßstimme zugerufen hätte: »Nur näher, Meßjös! Es ist halt eine kleine Probe; wenn Sie beiwohnen wollen, viel Ehre! Sie mögen unser Publikum vorstellen, setzten Sie sich da hinter den Tisch!« Der Mann war ein kleiner, dicker Knirps von etwa fünzig Jahren, dunkelbraunen Angesichts, mit rollenden, etwas rot gefütterten Augen und ganz dünnen schwarzen Haaren. Er trug einen hellgrünen Rock, jetzt zum Frack eingerichtet, doch so, daß man noch an den verschiedenen Nuancen der Farbe sehen konnte, wie er sich schon oft nach den Launen der Mode hatte hudeln lassen müssen und wie er zuweilen mit langen, zuweilen mit kurzen Schößen, dann mit großen und dann wieder mit kleinen Aufschlägen war versehen worden. Jetzt war er mit etwas geziert, das man einst am Hofe des Herzogs von Württemberg und nachher, sooft es auf anderen Kleidern gesessen, tour appliquée, eine angeheftete Stickerei, genannt hätte. Unsere Gäste waren durch das Geräusch, welches in dem Zimmer herrrschte, worin sich außer dem kleinen Herrn noch viel Personen beiderlei Geschlechts befanden, und durch einen fremden Anblick so betäubt, daß sie sich gleich auf die ihnen angewiesenen Plätze hinsetzten, worauf der Dialog unter allen anwesenden Menschen folgendermaßen fortging:
Ein ziemlich altes Frauenzimmer: Ein Verbrechen! Und mein Gewissen schweigt? Und befiehlt mir zu beharren? Was ist ein Staatsverbrechen?
Der alte Herr: Wenn du »mein Gewissen« sagst, muß du den Zeigefinger auf die Herzgrube legen, aber nicht zu tief, sonst zeigt es den Magen an. Ich weiß nicht, ihr Leute habt noch immer keinen Begriff von echter Gestikulation. Nun wird geläutet; wer läutet?
Ein junger Mensch: Ich! (Er nimmt ein Bierglas vom Tisch und schlägt mit der Tabakspfeife daran)
Ein anderer: Was läutet man?
Die Frau: Es ist Mittag.
Der Förster: (für sich) Es mag den Teufel sein! Es ist, meiner Seel, bald sieben Uhr!
Der andere: Diese Glocke läutet Euch kein gutes Zeichen.
Die Frau: (ängstlich) Ich ahnte es; ich weiß es; mir wird so bange - Albrecht!
Der dicke Herr: Lauter, lauter!
Die Frau: (brüllt) Albrecht! Und du verließest mich!
Der dickte Herr: Bravo!
Musjö Valentin: (leise) Papa! Die Menschen sind toll, lassen Sie uns machen, daß wir fortkommen!
Der Amtmann: (leise) Herr Pastor! Was bedeutet das?
Der Pastor: (leise zum Amtmann) Ich glaube, es sind mimi, histriones, Komödiantenvolk.
Der andere: Entschließet Euch!
Die Frau: Ich bin ja entschlossen; ich hab's Euch ja oft gesagt; hab' nie gewankt.
Der dicke Herr: Nun kommt der neunte Auftritt.
Ein Dritter: (tritt hervor) Es ist Zeit!
Der andere: Hört Ihr's?
Die Frau: Gott, was soll mir geschehn? - Wo ist Zenger? - O Albrecht!
Der Dritte: Soll ich?
Der andere: Ja!
Ein Vierter: (kommt hinterm Ofen hervor) Herr Kanzler! Wißt Ihr, wie mit Schurken und Verrätern verfahren wird?
Valentin: (leise) Papa! Sie schimpfen.
Der andere: Wozu diese Frage?
Der Vierte: Weil Ihr's an Euch selbst bald erfahren soll. Folgt mir, gnädige Frau!
Der Amtmann: (leise) Es ist eine von der Noblesse.
Der dicke Herr: (rüttelt den auf dem Schenktisch stehenden Messerkorb und trommelt auf dem Tisch) Das war das Waffengetöse und Trommeln; nun spricht Tuchsenhauser.
Der andere: Verwegener! Agnes soll dableiben, auf des Herzogs Befehl!
Der Amtmann: Verzeihen Sie; hier hat niemand zu befehlen als der Fürst Bischoff.
Der Vierte: (zieht ein Messer hervor) Verräter! Das gilt mehr als dein Herzog! (will die Frau fortreißen)
Der dicke Herr: Bravo! (Er gibt ein Zeichen durch Klopfen an der Tür; mit einmal stürzen der Hausknecht, ein Taglöhner und noch einige andere, mit Knütteln bewaffnet, herein; es kommt zum Kampf)
Der Förster: (der, als ein reitender Förster, nie anders als mit Stiefeln und Sporen und bewaffnet mit einer Peitsche erschien) Nein! Das ist zu arg. Willst loslassen, du Sackermenter! Ist das erlaubt, über ein Weibsmensch herzufallen?

Und nun fuhr der Förster hinter dem Tische hervor. Freilich konnte der gute Mann, der in seinem Leben kein ordentliches Schauspiel gesehen hatte, nicht wissen, daß das, was er da hörte, eine Stelle aus dem großen Original=Trauerspiel »Agnes Bernauer« (oder undeutsch zu reden: Bernauerin) war. Der reisende Schauspieldirektor, Herr Stenge, war nämlich mit seiner zusammengerafften Gesellschaft tags zuvor in Hildesheim angekommen, woselbst er die Erlaubnis erhalten hatte, zum Besten der Moralität und zur Förderung des guten Geschmacks so lange Vorstellungen von unseren Nationalmeisterstücken zu geben, bis die ehrlichen Bürger und Handwerksleute nichts mehr zu versetzen haben würden, um vierzehn Vagabunden zu füttern. Bessere Schauspielgesellschaften hatten ihr Auskommen in Hildesheim nicht gefunden, und so war denn doch zu hoffen, daß Mädchen und Jünglinge in romanhafter, schwärmerischer Stimmung und in den Künsten der edlen Buhlerei wenigstens nicht ganz hinter der Jugend andrer Städte zurückbleiben würden. Des Herrn Stenge sogenannte Schauspielergesellschaft hatte übrigens noch das eigne Verdienst, daß sie eine wahre Musterkarte von allen deutschen Provinzdialekten war; doch führten die meisten Mitglieder die sanfte bayrische Mundart. Da das Brauhaus, worin der Schauplatz errichtet werden sollte, noch nicht in Ordnung war und man am Montag das eben genannte Trauerspiel mit allem Pomp geben wollte, hatte der Direktor, welcher mit seiner - leider schon ein wenig bejahrten - Frau Liebsten im Gasthof des Herrn Lauenstein sein Quartier genommen hatte, einen Teil seiner Gesellschaft zu sich bestellt, um einige Szenen aus dem vierten Akt zu probieren. Es war nicht möglich, alles so vollkommen und täuschend darzustellen, wie es am Montag auf der Bühne erscheinen sollte; denn da waren die edle Schuster- und die Schneiderzunft und einige Perückenmacher eingeladen worden, die Personen des Magistrats von Straubingen, die Fürsten und Ritter auf dem Turnier, die Richter, Knechte, Wachen u. dgl. zu verkörpern, welche Rollen sonst in Berlin und anderen Städten wohl mit Musketieren besetzt zu werden pflegen. Heute hatte man den Hausknecht und ein paar andere Lümmel, die gerade im Hause waren, abgerichtet, auf ein zu gebendes Zeichen in das Zimmer zu stürzen, wenn Tore mit den Kriegsknechten erscheinen mußte. Dem Förster war das Ding zu bunt, er verstand nicht, worüber der Streit entbrannte; als man aber über die ältliche Dame, welche Agnes darstellte, herfiel, hielt er es für eine Pflicht, der schwächeren Partei beizustehen. Also fuhr er, wie wir schon gesagt haben, hinter dem Tische hervor und arbeitete mit seiner Peitsche auf die Kriegsknechte los. Der dicke Herr Stenge hielt den Mann im grünen Rock für einen Spaßvogel, der den Kampf täuschender darzustellen suchte, und rief einmal über das andere aus: »Bravo! Bravo!« Aber nicht also der Hausknecht und Konsorten. Man hatte ihnen, als man sie zu dieser Vorstellung instruierte, nicht gesagt, daß sie ernstlich Schläge bekommen sollten. Da die Sache nun diese Wendung nahm, gefiel ihnen das sehr übel, und weil doch jeder sich gern seiner Haut wehrt, wenn er kann, so blieben sie unserm armen Dornbusch nichts schuldig. Wenn es aber nach dem vortrefflichen alten Spruch ein Trost ist, Gefährten im Unglück zu haben, so wurde dieser Trost auch dem Förster zuteil; denn als die Kriegsknechte glaubten, der Grünrock gehöre mit zu der Partei derer, welche sie anzugreifen befehligt waren, und er die Sache so ernstlich behandelte, meinten sie auch ein Recht zu haben, sich wegen der empfangenen Hiebe an den übrigen zu rächen. Binnen kurzem war daher die ganze Gesellschaft in zwei Parteien geteilt; hier tummelten sich zwei auf der Erde herum; dort hatten sich ein paar in die Haare gefaßt; Agnes Bernauer vergaß die Ohnmacht, die in ihrer Rolle stand, und schrie laut; ihr Gatte, der Prinzipal, versuchte, die Kämpfer auseinanderzureißen; indes der Pastor, der Amtmann und sein Sohn kläglich und ängstlich um Hilfe riefen. Endlich hörte Herr Lauenstein, der Wirt, daß der Lärm größer war, als zu einer bloßen Probe unumgänglich nötig schien. Er kam also mit seinen übrigen Hausgenossen herbei. Es wurde ein Waffenstillstand gemacht; dann kam es zu Erläuterungen; der Prinzipal versicherte, er freue sich, bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft des Herrn Försters Dornbusch und seiner Gefährten gemacht zu haben, und dieser schloß mit der Sentenz: »Der Teufel hole solche Komödien!«

Anmerkungen

Adolph Freyherr Knigge, geboren in Bredenbeck am Deister, gestorben in Bremen (wo er - im Herzogtum Bremen - als Oberhauptmann der hannoverschen Regierung amtiert hatte), ist vom Namen her der wahrscheinlich bekannteste deutsche Aufklärungsliterator überhaupt. Allerdings war sein großes, am Vorabend der Französischen Revolution entstandenes, Erziehungswerk »Über den Umgang mit Menschen«, das seinen Namen für alle Zeit geradezu sprichwörtlich machte, nicht als Benimm-Fibel gemeint, vielmehr als bürgerliches Emanzipationsbuch. Mißverstanden wurde der »freie Herr Knigge«, wie er sich nannte, aber auch zu Lebzeiten des öfteren. Und: politisch verunglimpft. Wobei seine politischen Schriften, zumal nach 1789, für deutsche Verhältnisse in der Tat nicht ohne sind. Sein komischer Roman »Die Reise nach Braunschweig« zeigt dagegen eher die humoristische Seite seines Talents. Übrigens hat der Ballonaufstieg des Herrn Blanchard zum fraglichen Zeitpunkt wirklich stattgefunden, nur unsere Reisegesellschaft aus »Biesterberg« (um das Wort »Bredenbeck« zu vermeiden) - sie bekommt davon leider nichts mit (was den Leser nach der Hildesheimer Histrionen-Episode aber vermutlich nicht allzusehr überraschen dürfte...).

Quelle

Adolph Freyherr Knigge, Die Reise nach Braunschweig (Hrsg. Heinz Seydel), Berlin: Eulenspiegel, 1956, S. 12 - 16; S. 17 - 29.