Schulzeit im Ratsgymnasium Hannover

Aus: »Einmal und nie wieder«

Lebenserinnerungen, posthum erschienen 1935

Von welcher Art waren die Lehrer? Sie waren nicht die weltfernen Gelehrten und Idealisten des Ehemals. Sie waren, wie man das damals nannte: »Moderne Menschen«. Preußische Beamte, Leutnants der Reserve, kaisertreu und sehr vaterländisch. Sie waren erpicht auf Standesehre und Standesgemäßheit. Denn der Oberlehrer galt in der Gesellschaft nicht ganz so viel wie der Amtsrichter oder wie der Sanitätsrat und kompensierte sein bescheidenes Gehalt durch um so strengere Schneidigkeit. Er war der Männertyp, der beständig männerte. Forsche Haltung war in jeder Lage Hauptsache. Und so waren es plumpe Menschen ohne Seelenfeinheit, denen die adeligste Blüte der Erde, das Erbe der griechischen und römischen Vorwelt anvertraut ward, um daraus einen »Prüfungsstoff« für die Jugend zu machen, welche an Homer und Horaz sich »Berechtigungen« ersitzen oder erschwindeln mochte. Wer bis Sekunda durchhielt, brauchte statt dreier Jahre nur ein Jahr im deutschen Heere zu dienen. Wer aber gar die Prima absolvierte, der hatte die Möglichkeit ein höherer Mensch mit Doktortitel zu werden. Alle aber, mit Ausnahme der dümmsten, welche alte Philologie studierten, warfen nach dem Abgang von der Schule diesen ganzen humanistisch-klassizistisch-griechisch- lateinischen Plunder auf immer in die Ecke und blickten als Assessoren, Regierungsräte und Ministerialräte niemals wieder in die alten Schwarten.
Wenn die Erinnerung den endlosen Reigen vergegenwärtigt, den endlosen Reigen meiner Kerkermeister, diese Zezeh, Pachun, Tekel, Manke, Pinscher, Hornepipen – (so lauteten ihre Schulnamen, im Bürgerlichen waren das die Herren Capelle, Freye, Scheller, Müller, Kiel und Hornemann) – wenn ich diese vielen unterschiedlichen Gesichter wieder vor mir sehe, so erscheint im milderen Lichte des Alters wohl das eine oder andere als das ganz brave Gesicht eines braven Philisters, aber nicht eines ist darunter, an das ich mit Zärtlichkeit, keines an das ich mit Ehrfurcht zu denken vermöchte und an die meisten denke ich mit Zorn, mit Verachtung, ja mit Ekel und Widerwillen.
Dieses humanistische deutsche Gymnasium mit Patriotismus, Latein und Griechisch als Hauptfächern, Mathematik, Geschichte und französischer Grammatik als Nebenfächern – (Englisch war noch nicht obligatorisch) -, diese halb auf Ämterwettlauf und Streberei, halb auf eine verlogene, deutschtümelnde Phrasenhaftigkeit aufgebaute Menschenverdummungsanstalt war nicht nur ungeheuerlich gewissenlos, – sie war vor allem langweilig, langweilig bis zum Stumpfsinn! Meine ersten Bücher, die heute leider verschollen sind, bewahren die Sehnsüchte und Qualen dieser Zuchthausjahre. Nichts nichts, nichts könnte je gutmachen, was diese fünfzehn Lebensjahre in mir zerstört haben. Noch heute träume ich fast allnächtlich von den Folterqualen der Schulzeit.

Quelle

Theodor Lessing, Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen mit einem Vorwort von Hans Mayer. Gütersloh : Bertelsmann, Reinhard Mohn, o.J. (1969), S. 108 f.

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Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen mit einem Vorwort von Hans Mayer Bertelsmann, Gütersloh 1969