Rattenfänger - Kinderfänger - Mädchenfänger

Autor

Johann Wolfgang Goethe

Johann Wolfgang Goethe 1828, Gemälde von Joseph Karl Stieler

- 1804 -

Der Rattenfänger

    Ich bin der wohlbekannte Sänger,
Der vielgereiste Rattenfänger,
Den diese altberühmte Stadt
Gewiß besonders nötig hat.
Und wären's Ratten noch so viele,
Und wären Wiesel mit im Spiele:
Von allen säubr' ich diesen Ort,
Sie müssen miteinander fort.

    Dann ist der gutgelaunte Sänger
Mitunter auch ein Kinderfänger,
Der selbst die wildesten bezwingt,
Wenn er die goldnen Märchen singt.
Und wären Knaben noch so trutzig,
Und wären Mädchen noch so stutzig:
In meine Saiten greif' ich ein,
Sie müssen alle hinterdrein.

    Dann ist der vielgewandte Sänger
Gelegentlich ein Mädchenfänger,
In keinem Städtchen langt er an,
Wo er's nicht mancher angetan.
Und wären Mädchen noch so blöde,
Und wären Weiber noch so spröde:
Doch allen wird so liebebang
Bei Zaubersaiten und Gesang.
        (Von Anfang)

Anmerkungen

Im Sommer 1801 weilte Goethe zur Kur in Bad Pyrmont, und um dem dortigen Spielkasino zu entgehen und nicht seinererseits der »Leidenschaft des Spiels« zu verfallen, die in Pyrmont »apprehensiv wie eine böse Schlange sich durch die Gesellschaft windet und bewegt« (auch das »Wetter« war »sehr unbeständig«), beschäftigte er sich intensiv mit dem »Lesen von so mancherlei Heften, Büchern und Büchelchen, alle mehr oder weniger auf die Geschichte von Pyrmont und die Nachbarschaft bezüglich«. Und in einem dieser Hefte, Bücher oder Büchelchen fand er eben auch die Sage vom Rattenfänger zu Hameln, die er ganz auf seine Weise umdichtete und drei Jahre später, 1804, veröffentlichte. Natürlich nahmen spätere Goethe-Philologen ihren erwartbaren Anstoß daran, daß der Dichterfürst »das ernste Sagenmotiv« hier »so ganz ins Heitere« gewandt habe. Aber das hätte den »gutgelaunten Sänger« vermutlich nur amüsiert.

Quelle

Johann Wolfgang Goethe, Der Rattenfänger.  In: Sämtliche Werke. Jubliläums-Ausgabe (Hrsg. Eduard von der Hellen), Stuttgart und Berlin : J.G. Cotta, o.J. [1902], Bd.1: Gedichte, S. 116f (und Anm., S. 341), Zu Bad Pyrmont: Bd. 30 (Annalen), S. 80 f.