Im Sumpf

Autor

Wilhelm Raabe

Wilhelm Raabe, Portrait von Wilhelm Immenkamp

Eine Besichtigung des Dräumling, 1. April 1870

Es war ein ziemlich bedeutender Morast, an dessen Rande der Storch stand, auf welchen wir, da es einmal nicht anders sein kann, die Aufmerksamkeit des Publikums hinwenden möchten.

Die Sonne war vor ungefähr einer Stunde untergegangen; eine warme Dämmerung lag auf der weiten hügeligen Ebene; gelbes und rotes Gewölk auf grauem Grunde spiegelte sich im stehenden Gewässer, und die feine Sichel des Mondes stand fast ebenso zartschief unten im glatten Teiche, wie oben am dunkelnden Himmelsgewölbe. Schilf, Binse und Weidenstrauch regten sich so wenig wie der ernsthafte nachdenkliche Vogel, welcher der träumerischen Landschaft vor kurzem sein Nachtessen in Gestalt dreier wohlbeleibter Frösche entnommen hatte und nunmehr ruhig verdaute, ebenfalls mit seinem Bilde zu seinen Füßen in den stillen Fluten.

O, wie wir vor einer Viertelstunde noch dieses lang- und rotbeinige, dünnschnäblige Exemplar von Ciconia alba haßten! Wir hatten es streng im Verdachte, um fünf Uhr nachmittags unsern Helden »gebracht« zu haben, und was dem Leser und unter Umständen auch der Leserin ein Vergnügen oder höchstens ein kurzer Überdruß gewesen wäre, das hätte dem Autor sicherlich das Gegenteil vom erstern und eine hundertfach verdoppelte Dosis des letzteren bedeutet.

Wir hatten uns wieder einmal geirrt! Das Tier war von einem viel allgemeinern Gesichtspunkte aus zu betrachten, und wir ersuchen auch die verehrliche Leserin, es von einem solchen aus anzusehen.

Der Sumpf hieß der Dräumling und war seit uralten Zeiten berühmt wegen seiner fetten Frösche und seiner derben Jungen und Mädchen; und wir - wir können und wollen es nicht hindern, daß alles auf dieser Erde seine gewiesenen Wege gehe, und daß immerfort ein wimmelnder Überfluß des Lebens aus der Tiefe in die Höhe geholt wurde.

Der Sumpf oder Morast war von Wäldern, Heiden und kärglichen Ackerfeldern umgeben, und in die Wälder zog er sich in vielen Armen und Abzweigungen hinein; hier stundenbreit sich ausdehnend, dort sich in fast natürliche Gräben und Kanäle zusammenziehend. Eine ärmliche Bevölkerung nährte sich durch harte Arbeit um ihn und in ihm: Waldleute, Landleute, Fischer, Schäfer, und vor allem Bienenzüchter, Torfstecher und Torffuhrleute. Ein Flüßchen durchschlich - durchschlich wie schlaftrunken die wunderliche Landschaft, und wo dasselbe in Verbindung mit dem Sumpfe und mit Hilfe einer von Hügeln umgebenen Niederung einen See gebildet hatte, lag auf einer Art Halbinsel ein Städtchen von etwa siebentausend Seelen, Paddenau genannt, von Wenden um ein heidnisch greuliches Götzenbild aufgerichtet, von Niedersachsen zur Zeit Heinrichs des Schwarzen und der Frau Wulfhild, der reichen Tochter Herzogs Magnus, der Erbin des Billungschen Allods niedergebrannt und um ein christlich Heiligtum zu Ehren des heiligen Ursus (was für ein Heiliger das war, weiß ich nicht!) von neuem wieder aufgebaut.

Das ist entsetzlich lange her! Es ist aus jener Zeit nichts übrig geblieben als das Grundgemäuer der Ursuskirche, die im Laufe der Jahrhunderte selbstverständlich einiger Reparaturen bedurft hatte, und eine Sage von einer Sumpffee des Namens Wulfhilde, welche in Mondscheinnächten durch Bruch und Moor und über das stille Gewässer des Teiches einherzieht, mit dem Falken auf dem zierlichen gespenstischen Fausthandschuh und mit einem großen Gefolge von lustigen Fräulein und durchsichtigen Rittern. Paddenau ist jetzt ein ganz gewöhnliches Landstädtchen, das sich weder um den Herzog Magnus, noch den schwarzen Heinrich und das Erbe der Billunger im geringsten kümmert, und welchem die Frau Obertamtsrichter und ihre Töchter viel bedeutendere Erscheinungen sind, als die Damen der Frau Herzogin Wulfhilde von Sachsen und die Frau Herzogin selber.

»Kurr, krr, krack, klapp, papp, papp!« sagte unter langbeiniger, rotschnäbeliger Freund, sich wie widerwillig dem tiefsinnigen Spiel seiner Gedanken entreißend und seine Flügel dehnend. Aber wie im klaren über den ruhigen Fortgang seines Verdauungsprozesses erhob er sich in die Luft und nahm seinen Flug Paddenau zu, und wir folgen ihm, wenn auch nicht durch die Lüfte, so doch durch Ried, Wald und Heide zu den Lichtern des Städtchens, die nun bereits in der Dämmerung zu flimmern beginnen und sich in dem See um den dunkeln Häuserhaufen spiegeln, mit demselben Rechte wie die immer klarer hervortretende Mondsichel.

Da heben sich Pfähle aus dem Wasser, Füllplätze an Garten- und Hausmauern, schwarze Gebäude mit spitzen Giebeln und rauchenden Schornsteinen. Einige Kähne liegen am Ufer, und ein Plätschern, Kreischen und Lachen erschallte von Kindern, die nacktbeinig in der seichten, warmen Flut waten. Die Erwachsenen und die Alten sitzen nach vollbrachtem Tagewerk vor den Häusern oder in den Gärten. Von Zeit zu Zeit trifft ein Geruch von gebratetenem Speck, von Eierkuchen und dazwischen auch wohl ein absonderlicher süßer Duft von selbstgebautem Tabak die Nase; - alles in allem genommen riechen wir Paddenau viel früher, als wir es sehen; doch das ist einerlei: wir halten uns für heute an den Lampenschein, der aus den Fenstern des Hauses fällt, auf dessen Giebel Bartold der Adebar sich soeben niederläßt, um klappernd sich im Neste seiner Ahnen zur Ruhe zu begeben.

Auch dieses Haus grenzt mit seinem Gärtchen an den Paddenauer See, und der Schimmer von zwei Lichtern, die im ersten Stockwerk brennen, zieht uns bedeutend an. Das erste flimmert hinter den Fenstern des Rektors Gustav Fischarth und das andere in der Wohnstube der Frau Agnes Fischarth, des ehelichen Weibes des Rektors von Paddenau -
    D r i l l i n g e !


Anmerkungen

Der vom Flüßchen Ohre durchquerte Drömling, heute »Naturpark«, vor 250 Jahren noch ein (laut Heimat-Chronik) »undurchdringliches Sumpfgebiet« im Grenzbereich der Länder Braunschweig, Hannover und Preußen, ist der Schauplatz von Wilhelm Raabes Roman »Der Dräumling«, einer boshaft-humoristischen Geschichte über die philiströs-patriotischen, buchstäblich ausufernden deutschen Schiller-Feiern des Jahres 1859. Wie der Autor im Jahr 1892 behauptete, habe er den Roman am 1. April (!) 1870 begonnen und am 12. Mai 1871 beendet, just zur Zeit des deutsch-patriotischen Siegestaumels also und der Reichsgründungs-Euphorie - honi soit qui mal y pense. Fragt sich allerdings, wo genau der Rektor Fischarth »seinen Mitbürgern im Sumpfe« das »hohe Fest des germanischen Idealismus« bereitete, denn ein Landstädtchen namens »Paddenau« ist auf der Real-Landkarte des Drömling leider nicht zu finden. Soll man's in Brome vermuten, der alten Wenden-Siedlung, gelegen an der Ohre, die dort einen kleinen See bildet? Oder in Gardelegen an der Biese? Fallersleben an der Aller? Da wäre freilich auch noch - Gifhorn: mit Fluß, See und Morast, mit Amtsgericht und Tabakbau-Vergangenheit. Fahren Sie hin, prüfen Sie's nach! (Raabe selber hat die schillersche 100-Jahr-Feier übrigens in Wolfenbüttel miterlebt, aber das liegt eigentlich nicht im oder am Sumpf, oder?).

Quelle

Wilhelm Raabe, Der Dräumling. In: Sämtliche Werke. Berlin-Grunewald : Klemm, o.J. [1913], Zweite Serie, Bd. 3, S. 1 - 218