Franzosenzeit und Restauration

Autor

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben

Hoffmann von Fallersleben, Stich von 1841

- 1868 -

Aus: »Mein Leben«

1810

Es schien, als ob ganz Deutschland französisch werden sollte, als wir in das neue Jahr 1810 eintraten. Schon im Januar ward Alt-Hannover mit Westfalen vereinigt und im Herbst auch das Schicksal Fallerslebens entschieden: es bildete von nun an einen eigenen Kanton des Oberdepartements. Mein Vater wurde am 1. Oktober Kanton=Maire, mein Bruder Mairie=Sekretär. Beide Stellungen waren nur bedeutend durch die Ehre und die Gelegenheit, amtlich viel Schlimmes abzuwenden und viel Gutes zu veranlassen und zu fördern.

Plötzlich war nun alles anders geworden. Das öffentliche Politisieren hörte auf. Von Braunschweig wußten wir, wie gefährlich es war und werden konnte. Mancher büßte für eine unbefangene Äußerung in den Gefängnissen zu Kassel. Die geheime Polizei nämlich, diese saubere napoleonische Einrichtung, war auch in Westfalen eingerichtet und zählte mehr Eingeborene als Fremde unter ihren Helfern und Helfershelfern - ewige Schmach für den deutschen Namen! Der westfälische Moniteur, die einzige westfälische Zeitung, halb französisch, halb deutsch, ging von der Regierung aus; alle Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter und Anzeigen standen unter der strengsten Zensur. Fremde Zeitungen waren zu teuer und durften sich ebenfalls nicht frei äußern. Der Hamburger Korrespondent hatte für uns aufgehört. Hamburg war französisch geworden, der Korrespondent mußte eine bedeutende Stempelsteuer bezahlen, das war den Fallerslebern zu teuer und niemand hielt ihn mehr.

Geheime Polizei und Zensur hatte bis jetzt keiner bei uns eigentlich gekannt, jetzt lernten wir sie in ihrer ganzen Bedeutung kennen: beide waren die besten Mittel zur gänzlichen Unterdrückung der Wahrheit und jeder vaterländischen und freisinnigen Regung. Die geheime Polizei verbreitete Furcht und Schrecken in allen Kreisen der Gesellschaft und brachte jene trübe Stimmung hervor, die sich auch im Jahre 1819 bei den Demagogenuntersuchungen ebenfalls aller Gemüter bemächtigte. Doch blieb es nicht bei dem geistigen Druck und der geistigen Bevormundung. Die Kontinentalsperre hemmte allen Handel und Verkehr und verteuerte eine Menge Lebensbedürfnisse, an die man sich in unseren Gegenden seit mehr als hundert Jahren gewöhnt hatte. Alles das traf jedoch mehr die Gebildeten, Wohlhabenden und Vornehmen. Zwei Dinge aber erstrecken sich über das ganze Volk: die unbarmherzige Konskription und die fast unerschwinglichen Abgaben. [...].

Das waren die Hauptschattenseiten der westfälischen Regierung, und darum glaubte man, es müsse als Wohltat betrachtet werden, wenn man dem Volke, als es wieder hannoverisch geworden, alles Alte, was es einst hatte, so schnell als möglich wiedergäbe. Und das geschah. So wurde denn von der neuen Junker= und Zopfregierung vieles Gute beseitigt, was alle vernünftigen Vaterlandsfreunde für heilsam und notwendig hielten und halten.

Das junge Königreich Westfalen hatte Gleichheit vor dem Gesetz, mündliches und öffentliches Gerichtsverfahren, Schwurgerichte, allgemeine Konskriptions= und Steuerpflichtigkeit, freie Ausübung des Gottesdienstes der verschiedenen Religionsgesellschaften, gleiche Berechtigung zu öffentlichen Ämtern, Trennung der Justiz und Verwaltung, und hatte - keine Hörigkeit, keine Fronden und Zehnten, keine Privilegien und keinen Adel. Bürger und Bauern hatten das Schlechte schnell kennen gelernt, aber das Gute noch viel schneller. Sie wußten, daß sie sich überall einer anständigen Begegnung von seiten der Behörden zu versehen hatten, daß ihre Klagen und Beschwerden gehört werden mußten, daß ihre Prozesse schnell und billig entschieden wurden, daß sie mit einem weiland bevorrechteten Stande in gleichen Rechten und Verpflichtungen standen. So lernten sie allmählich ihre Würde als Menschen fühlen und ihre Stellung als Staatsbürger begreifen. Die hannoversche Junker= und Beamtenherrschaft war verschwunden mitsamt ihren langstieligen, groben, halblateinischen und eben deshalb unverständlichen Erlassen, ihren Bütteln und Hundelöchern, ihren Schandpfählen, Folterkammern, Galgen und Rad. In den amtlichen Schreiben gab es keine Abstufungen vom edelgeborenen Schneider und Schuster bis zum hochgeborenen Grafen. Alles wurde mit »Mein Herr« abgemacht. [...].

1814

Als die Abdankung Napoleons bekannt wurde, zeichnete ich mit einem Diamant auf eine Fensterscheibe in unserer Kinderstube ein Bild: in der Mitte Napoleon in zerlumpter Uniform mit seinem bekannten Hute, links der Gott der Zeit mit einer gewaltigen Sense und darunter folgende Verse:

Hier zeigt die Zeit ein Schattenspiel:
Napoleon den Großen,
Wie er von seiner Höhe fiel
In Nesseln mit dem Bloßen.

Die Fensterscheibe hat sich viele Jahre erhalten, ist aber endlich, wie meine Nichte sagt, »kaput« gegangen. Mancher, der sie sah, hat über den Sekundanerwitz gelacht. [...].
Den nächsten Anlaß gab das Friedensfest. Briefe von Haus kündigten mir nämlich an, daß im Königreich Hannover am 24. Juli das Friedensfest gefeiert werden sollte. Diese Nachricht stimmte mich so augenblicklich zum Dichten, daß ich während des sehr trockenen Vortrags des sehr ehrwürdigen Hofrats Helwig in der mathematischen Stunde [im Braunschweiger Catherineum] ein Friedenslied zustande brachte nach der Melodie: »Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher«. Am 12. Juli schickte ich dies Lied mit einigen Xenien nach Haus und harrte in wunderbarer Begierde der Antwort, wie es aufgenommen würde. Zwei Tage nachher erfolgte ein lobender Brief meines Vaters, und ich reiste bald darauf mit einer unaussprechlichen Freude nach Haus. Am 24. gab es viele ernste Feierlichkeiten, am 25. ging's um so lustiger her, da war Freischießen. Mit voller Musik zieht die junge Schützengilde hinaus. Es beginnt das Königsschießen. Der beste Schuß ist getan und der neue König wird vor einem großen GR gekrönt. Die junge Mannschaft lagert sich auf dem grünen Rasen und singt mein Lied: »Herein, herein in unsers Kreises Runde!« Ich stand dabei: ob mir das Herz klopfte! So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben erfahren. Und nun noch die Freude der Meinigen! - Damit dies denkwürdige Ereignis unvergessen bliebe, besorgte mir einige Wochen später der Buchdrucker Meyer einige Abdrücke meines Liedes, die ich dann bis auf wenige nach Haus schickte, wo sie denn auch sofort vergriffen wurden. [...]

1815

Ich dichtete nach wie vor, und dichtete jetzt Freiheitslieder in und außer der Schule. [...] Am 2. Mai ging ich zum Buchdrucker Johann Heinrich Meyer und brachte ihm vier vor einiger Zeit verfaßte Lieder und fragte ihn, ob er geneigt sei, sie zu drucken. »Sehr gern« erwiderte er, »schade, daß Sie nicht schon eher damit gekommen sind.« Er bestellte dann für seinen »Calender auf das Schalt=Jahr nach Christi Geburt 1816« ein Einleitungsgedicht. Auch ich sage: »Sehr gern etc.« und den andern Tag ist es bereits vollendet und in seinen Händen.

Am 6. Mai sind meine Lieder gedruckt, ich bekomme 10 Exemplare ohne Titel, ich eile damit zu den Pfingstferien nach Haus. Ich und meine Lieder wurden freundlichst empfangen, diese beinahe noch freundlicher als ich. Meine Eltern waren hocherfreut. Was aber muß ich sehen, als ich in einer Schublade nach etwas suche? In mein Friedenslied vom vorigen Jahre hat meine liebe Schwester ihre Tanzschuhe eingewickelt. Nun, dachte ich, dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, und dir, dir geht es am Ende noch schlimmer, dir wird auch bei Lebzeiten kein Kranz zuteil. Diese bittere Erfahrung vergaß ich nie, und im Augenblicke konnte mich nichts darüber trösten, auch nicht einmal, daß mein Oheim meine neuen Lieder komponierte.

Meine vier Lieder erschienen ohne meinen Namen unter dem Titel: »Deutsche Lieder von A. H. H. Vincet amor patriae, laudumque immensa cupido. Virg. Aen. VI. 824. O.O. u. J. 5 Bl. 8°. - Die Begeisterung, in der sie verfaßt sind, verdient noch heute Anerkennung; sonst ist nichts Gutes daran. Übrigens zählte auch ich mich damals schon zu den Enttäuschten. Es schien mir jetzt nur noch bitterer Spott, was ich am Schlusse meines Friedensliedes (24. Juli 1814) ausgesprochen hatte:

Nun kommen wieder wonnevolle Zeiten
    Durch dieses Friedensband,
Nun kommen wieder jene alten Zeiten
    In unser Vaterland.

Ja, es kamen »jene alten Zeiten« - der hannoverschen Adels= und Beamtenherrschaft mit allen den alten Herrlichkeiten, die wir seit 1803 losgeworden waren. Täglich trafen neue Nachrichten aus dem Hannoverschen ein, daß die Wiederherstellung des althannoverschen Wesens die glücklichsten Fortschritte mache. Um diese Zeit (Anfang Mai) faßte ich den Entschluß, Hannover für immer aufzugeben. Mein Bruder dachte ebenso, er war damals schon im Auslande, und ich schrieb ihm: »Cedamus patria! so sagt der Emigrant beim Juvenal. Auch wir wollen dem Vaterlande entfliehen!« Dann fügte ich ein Sonett hinzu:

[Rechtschaffenheit erliegt der stolzen Schande,
Und darbet in der langersehnten Zeit,
Und trägt des Hochmuts hinterlass'nes Kleid,
Die Bosheit prunkt in seidenem Gewande.]

Der alte Adel schlinget neue Bande*)
Und unterjocht die Freiheit weit und breit,
Den stillen Bürger schreckt der Großen Neid,
Willkür und Selbstsucht herrscht im Vaterlande.

Hier kann wohl nie dereinst mein Glück erblühen,
Wohl nie mein Mut in diesen Fesseln glühen,
Drum will ich diesem schnöden Land entfliehen.

Gott gab der Reiche viel auf dieser Erde,
Er wandelt auch in Freude die Beschwerde,
Drum lodre meine Glut auf fremdem Herde.

Der Adel trat mit der größten Anmaßung wieder auf und suchte seine alten Vorrechte und Bevorzugungen auf alle Weise wieder geltend zu machen. Da tauten die alten längst verschollenen Klänge wie die eingefrorenen des Münchhausenschen Posthorns mit einem Male wieder auf: Herr von, Herr Baron, Herr Graf, Ew. Gnaden, gnädige Frau, Hochgeboren, Hochwohl=, Hoch= und Hochwohlgeboren usw. Alle höheren Staatsstellen wurden mit Adligen besetzt, in der Kavallerie gab es bald nur noch adlige Offiziere, die adligen Amtmänner hießen Drosten, die adligen reitenden Förster Forstmeister, die adligen Förster trugen goldene, die bürgerlichen silberne Epaulettes, die Adligen hatten ihre eigenen besseren Plätze im Theater, sogar in den Göttinger Hörsälen, und ihre Toten standen in den Hannoverschen Anzeigen unter der Abteilung: »Charakterisierte Personen«. Das waren die wonnevollen Zeiten!
*) Im Original heißt es schärfer: »Der Afteradel knüpfet neue Bande«

Anmerkungen

Heinrich Hoffmann (der sich als Autor, seiner Heimatstadt zu Ehren, »Hoffmann von Fallersleben« nannte), war in Fallersleben als Sohn des dortigen Bürgermeisters geboren worden, erlebte seine Kindheits- und erste Jugendzeit somit im Königreich Westfalen, dessen Vorzüge und Schwächen er hier, im ersten Band seiner Autobiographie so differenziert darlegt. Das insgesamt sechsbändige Erinnerungswerk »Mein Leben« schrieb Hoffmann in Corvey, wo er 1860 eine Stelle als Bibliothekar erhalten hatte - nach Jahrzehnten politischer Verfolgungen, Ausweisungen, Fluchten. 1842 war Hoffmann von Fallersleben, seiner politischen Lieder wegen (die er »Unpolitische Lieder« nannte) als Professor der - preußischen - Universität Breslau entlassen und des Landes verwiesen worden: ein Patriot, für den die deutsche »Einigkeit« allein auf der Grundlage von »Recht« und »Freiheit« denkbar war.

Quelle

Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ausgewählte Werke (Hrsg. Hans Benzmann), Leipzig : Max Hesse, o. J. [1905], Bd. 3, »Mein Leben«, S. 20ff; S. 30 - 34