"Fahr wohl, fahr wohl." Lyrische Weser-Varianten

Autor

Franz von Dingelstedt

Franz von Dingelstedt um 1879

- 1838 - 1845 - 1858 -

1838

    Hier hab' ich so manches liebe Mal
Mit meiner Laute gesessen,
Hier schaut' ich hinunter in's weite Thal,
Und hatte die Welt vergessen.

    Und um mich rauscht' es und klang es so hehr
Und über mir tagt' es so helle
Und unten brauste das ferne Wehr
Und der Weser blitzende Welle.

    Wie liebende Töne aus rothem Mund
So flüstert' es rings durch die Bäume
Und aus des Thales blühendem Grund
Begrüßten mich nickende Träume.

    Da sitz' ich nun wieder und spähe umher
Und horche hinauf und hernieder;
Die holden Weisen klingen nicht mehr,
Die Träume kommen nicht wieder.

    Die süßen Gestalten sind all' zerstreut,
Der Himmel beengt und trübe, -
Fahr' wohl, fahr' wohl, du selige Zeit,
Fahr' wohl du närrische Liebe!

1845

Hier hab ich so manches liebe Mal
Mit meiner Laute gesessen,
Hinunter blickend in's weite Thal,
Mein selbst und der Welt vergessen.

Und um mich klang es so froh und so hehr,
Und über mir tagt' es so helle,
Und unten brauste das ferne Wehr
Und der Weser blitzende Welle.

Wie liebender Sang aus geliebtem Mund,
So flüstert' es rings durch die Bäume,
Und aus des Thales offenem Grund
Begrüßten mich nickende Träume.

Da sitz ich auf's Neue und spähe umher
Und lausche hinauf und hernieder,
Die holden Weisen rauschen nicht mehr,
Die Träume kehren nicht wieder.

    Die süßen Bilder wie weit, wie weit.
Wie schwer der Himmel, wie trübe!
Fahr wohl, fahr wohl, du selige Zeit,
Fahr wohl, du närrische Liebe!

1858

    Hier hab' ich, ach! manches unzählige Mal,
Als Knabe und Jüngling gesessen,
Hinuntergeschaut in das heimische Thal,
Die Welt und mich selber vergessen.

    Und um mich erklang es so heiter, so hehr,
Der Himmel erschien mir so helle,
So feierlich blitzte von unten daher
Der Weser geschlängelte Welle.

    Wie liebender Sang aus dem lieblichsten Mund,
So rauschte es rings durch die Bäume,
Und überall aus dem grünenden Grund
Begrüßten mich goldene Träume.

    Nun sitz' ich als Mann da, und spähe umher,
Ich horche hinauf und hernieder:
Die holden Gesänge, sie kommen nicht mehr,
Die goldenen Träume nicht wieder.

    Sie ziehen davon, wie die Wolken so weit,
So rasch, als ob Sturm sie vertriebe;
Fahrt wohl, all ihr Engel der kindlichen Zeit,
Du auch, du verteufelte Liebe!

Anmerkungen

Ob dies sogenannte »Weserlied« das gelungenste Weserlied ist, lassen wir einmal offen; mit Sicherheit ist es mehr als ein Jahrhundert lang das populärste seiner Art gewesen - jedenfalls in der zweiten Fassung, woran die schmachtende Vertonung Gustav Pressels (1827 - 1890) sicherlich ihren gebührenden Anteil besaß. Freilich hatte der Herr Kompositeur dabei 1845 nicht versäumt, den lässig ironischen Schlußvers ins Sentimentale umzupolen und das »Fahrt wohl« nunmehr den »Träumen der Liebe« zuzurufen, woran der Dichter somit unschuldig ist. Franz Dingelstedt, später noch: Franz Freiherr von Dingelstedt, war im hessischen Halsdorf zur Welt gekommen, aber in Rinteln an der Weser aufgewachsen und zur Schule gegangen. Berühmt (und politisch verdächtig) wurde er wegen seiner satirischen »Lieder eines kosmopolitschen Nachtwächters«, noch berühmter dann, als Generaldirektor des Wiener Burgtheaters, wegen seiner tollkühnen Shakespeare-Inszenierungen, doch absolut berühmt, zumindest in Niedersachsen, eben wegen seines »Weserliedes«, dessen erste Fassung er 1835 im Gasthof Reese in Todenmann bei Rinteln verfaßt haben soll - so sagt die Legende, über die freilich schon 1912 der Kulturhistoriker Prof. Dr. Otto Dieckhoff urteilte, es würde sie niemand anfechten, wenn im Liede nicht »unten das ferne Wehr« brauste, das es, so der Professor, »in Rinteln nicht gibt und nie gegeben hat« (wohl jedoch in Hameln). Doch sei's nun, wie's wolle - in der Fassung von 1858 (die Dingelstedt für die Ausgabe letzter Hand dann noch einmal leicht verändert hat) ist das Wehr ohnehin verschwunden. Allerdings wurde die wehr-lose Weser-Version auch nicht so volkstümlich. 

Quelle

Franz Dingelstedt, Gedichte. Cassel und Leipzig : Kriegersche Buchhdlg., 1838, S. 121 , Gedichte, Stuttgart und Tübingen : Cotta, 1845, S. 49f, Sämtliche Werke, Berlin : Gebr. Paetel, 1877, Bd. 7, 2. Abt.: Lyrische Dichtung, 1. Bd., S. 70