Explosionen des gebundenen Geistes

- 1797 und 1798 -
Aus den »Fragmenten«

»KRITISCHE FRAGMENTE«

(in: »Lyceum der Schönen Künste«, Berlin, 1797)

Eine gute Vorrede muß zugleich die Wurzel und das Quadrat ihres Buche sein.

Man muß das Brett bohren, wo es am dicksten ist.

In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst.

Die Romane endigen gern, wie das Vaterunser anfängt : mit dem Reich Gottes auf Erden.

Wer etwas Unendliches will, der weiß nicht, was er will. Aber umkehren läßt sich dieser Satz nicht.

Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.

Alle klassischen Dichtarten in ihrer strengen Reinheit sind jetzt lächerlich.

Nicht die Kunst und die Werke machen den Künstler, sondern der Sinn und die Begeisterung und der Trieb.

Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind, und mitstimmen dürfen.

Wieviel Autoren gibts wohl unter den Schriftstellern? Autor heißt Urheber.

Was in gewöhnlichen guten oder vortrefflichen Übersetzungen verloren geht, ist grade das Beste.

Mancher der vortrefflichsten Romane ist ein Kompendium, eine Enzyklopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums; Werke, die das sind, selbst in ganz andrer Form, wie Nathan, bekommen dadurch einen Anstrich von Roman. Auch enthält jeder Mensch, der gebildet ist, und sich bildet, in seinem Innern einen Roman. Daß er ihn aber äußre und schreibe, ist nicht nötig.

Zur Popularität gelangen deutsche Schriften durch einen großen Namen, oder durch Persönlichkeiten, oder durch gute Bekanntschaft, oder durch Anstrengung, oder durch mäßige Unsittlichkeit, oder durch vollendete Unverständlichkeit, oder durch harmonische Plattheit, oder durch vielseitige Langweiligkeit, oder durch beständiges Streben nach dem Unbedingten.

Witz ist eine Explosion von gebundnem Geist.

Folgendes sind allgemeingültige Grundgesetze der schriftstellerischen Mitteilung : 1) Man muß etwas haben, was mitgeteilt werden soll; 2) man muß jemand haben, dem mans mitteilen wollen darf; 3) man muß es wirklich mitteilen, mit ihm teilen können, nicht bloß sich äußern, allein; sonst wäre es treffender, zu schweigen.

Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie : Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.

Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.

ATHENÄUMS-FRAGMENTE

(in: »Athenaeum«, 1798)

Was gute Gesellschft genannt wird, ist meistens nur ein Mosaik von geschliffnen Karikaturen.

Witzige Einfälle sind die Sprichwörter der gebildeten Menschen.

Gute Dramen müssen drastisch sein.

Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.

Das Nichtverstehen kommt meistens gar nicht vom Mangel an Verstande, sondern vom Mangel an Sinn.

Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.

Wenn der Autor dem Kritiker gar nichts mehr zu antworten weiß, so sagt er ihm gern : Du kannst es doch nicht besser machen. Das ist eben, als wenn ein dogmatischer Philosoph dem Skeptiker vorwerfen wollte, daß er kein System erfinden könne.

Schön ist, was zugleich reizend und erhaben ist.

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Posie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken : so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefährt sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellendem, frei von allem realen und idealen Interesse, auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Posie ist unter den Künsten, was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetzt anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art und gleichsam die Dichtkunst selbst ist : denn in einem gewissen Sinne ist oder soll doch alle Poesie romantisch sein.

Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.

Wenn Verstand und Unverstand sich berühren, so gibt es einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik.

In der wahren Prosa muß alles unterstrichen sein.

Die echte Rezension sollte die Auflösung einer kritischen Gleichung, das Resultat und die Darstellung eines philologischen Experiments und einer literarischen Recherche sein.

Opfere den Grazien, heißt, wenn es einem Philosophen gesagt wird, so viel als : Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität.

Anmerkungen

Friedrich Schlegel wurde – als Sohn Johann Adolf Schlegels und jüngerer Bruder August Wilhelm Schlegels – am 10. März 1772 in Hannover geboren. Nach Absolvierung der Schule begann er in Leipzig eine Banklehre, die er jedoch frustriert abbrach, um in Göttingen ein Jura-Studium zu beginnen, das er aber gleichfalls nicht abschloß (er war halt der Mann des Fragments...). Er hielt engen Kontakt mit seinem Bruder August Wilhelm und folgte ihm, inzwischen freier Schriftsteller, 1796 nach Jena. Im Jahr darauf wechselte er nach Berlin, wo er für Reichardts »Lyceum der Schönen Künste« schrieb und mit Dorothea Veit zusammenlebte, die er 1804 nach ihrer Scheidung heiratete. Zwischen 1798 und 1800 gab er gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm die Romantiker-Zeitschrift »Athenaeum« heraus. 1801: Habilitation und Umzug nach Jena als Privatdozent. Da seine Vorlesungen keinen Zuspruch fanden, zog er 1802 mit Dorothea nach Paris, wenig später nach Köln, wo er 1808 gemeinsam mit seiner (ursprünglich jüdischen, dann protestantisch getauften) Frau, der Tochter Moses Mendelssohns, zum Katholizismus übertrat. 1809 wurde Schlegel, zunehmend konservativer gesonnen, Sekretär der kaiserlichen Hof- und Staatskanzlei in Wien, 1815 Legationsrat und Mitglied der österreichischen Gesandtschaft am Deutschen Bundestag in Frankfurt/M. In der 20er-Jahren reiste er als Vortrags-Redner durch Deutschland, und im Verlaufe so einer Vorlesungs-Tournee erlag er am 12. Januar in Dresden einem Schlaganfall.

Quelle

Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente (1797). In: Schriften zur Literatur. (Hrsg. Wolfdietrich Rasch). München : dtv, 1972, S. 7 – 24 (Auswahl)
Ders., Athenäums-Fragmente (1798). In: Schriften, a.a.O., S. 25 – 83 (Auswahl)

Publikationen

Titel Rubrik Verlag, Verlagsort Erscheinungsjahr Erwähnte Orte
Athenäums-Fragmente (1798) In: Schriften zur Literatur. (Hrsg. Wolfdietrich Rasch) dtv, München 1972
Kritische Fragmente (1797) In: Schriften zur Literatur. (Hrsg. Wolfdietrich Rasch) dtv, München 1972