Die Rache des Rattenfängers

Autor

Brüder Grimm

Wilhelm (li.) und Jacob Grimm, Portrait von Elisabeth Maria Anna Jerichau-Baumann, 1855

- 1816 -

Aus: Deutsche Sagen

Die Kinder zu Hameln

Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, weshalben er Bundting soll geheißen haben, und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifchen heraus und pfiff, da kamen alsobald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurück, ging er hinaus, und der ganze Haufen folgte ihm, und so führte er sie an die Weser; dort schürzte er seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle die Tiere folgten und hineinstürzend ertranken.

Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging. Am 26. Juni auf Johannis und Pauli Tag, morgens früh sieben Uhr, nach andern zu Mittag, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers erschrecklichen Angesichts mit einem roten, wunderlichen Hut und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an, in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nachgezogen war, danach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten mit betrübten Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber alles vergeblich. Es waren im ganzen hundertunddreißig verloren. Zwei sollen, wie einige sagen, sich verspätet und zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind, das andere stumm gewesen, also daß das blinde den Ort nicht hat zeigen können, aber wohl erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären; das stumme aber den Ort gewiesen, ob es gleich nichts gehört. Ein Knäblein war im Hemd mitgelaufen und kehrte um, seinen Rock zu holen, wodurch es dem Unglück entgangen; denn als es zurückkam, waren die andern schon in der Grube eines Hügels, die noch gezeigt wird, verschwunden.

Die Straße, wodurch die Kinder zum Tor hinausgegangen, hieß noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts (wohl noch heute) die bunge-lose (trommel=tonlose, stille), weil kein Tanz darin geschehen noch Saitenspiel durfte gerührt werden. Ja, wenn eine Braut mit Musik zur Kirche gebracht ward, mußten die Spielleute über die Gasse hin stillschweigen. Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg, wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.

Die Bürger von Hameln haben die Begebenheit in ihr Stadtbuch einzeichnen lassen und pflegten in ihren Ausschreiben nach dem Verlust ihrer Kinder Jahr und Tag zu zählen. Nach Seyfried ist der 22. statt des 26. Juni im Stadtbuch angegeben. An dem Rathaus standen folgende Zeilen:

Im Jahr 1284 na Christi gebort,
to Hamel worden uthgevort
hundertunddreißig Kinder dasülvest geborn,
dorch einen Piper under den Köppen verlorn.

Und an der neuen Pforte:

Centum ter denos cum magus ab urbe puellos
duxerat ante annos CCLXXII condita porta fuit.

Im Jahr 1572 ließ der Bürgermeister die Geschichte in die Kirchenfenster abbilden mit der nötigen Überschrift, welche größtenteils unleserlich geworden. Auch ist eine Münze darauf geprägt.

Anmerkungen

So einträchtig die Brüder Grimm auch fast ihr gesamtes Leben gemeinsam verbrachten - im Umgang mit alter »Volkspoesie«, ob Märchen, Sage oder Lied, gerieten sie überkreuz: Für Jacob Grimm (1785 - 1863) war jedes moderne »Hineinarbeiten« in die tradierten Texte verwerflich, während Wilhelm Grimm (1786 1859) die altüberlieferten Geschichten gern auffrischen und erzählerisch ausschmücken mochte. Aus der Arbeit an der Märchen-Sammlung zog sich Jacob denn auch (mehr oder minder grollend) zurück und überließ sie schon von der 2. Auflage an ganz dem jüngeren Bruder; doch bei ihrer Edition der »Deutschen Sagen«, die die Brüder 1816 und 1818 in zwei Bänden herausbrachten, bestand Jacob auf Einhaltung der ursprünglichen Kargheit. Und wollte man boshaft sein, könnte man jetzt folgern, daß die Sagen-Sammlung der Grimms womöglich deshalb nie die Popularität ihres Märchenbuchs erreicht hat. Doch wie auch immer: Der Ruhm ihrer Sage No. 245 ist ebenso unbestreitbar wie ungebrochen, und das weiß man nicht nur in Hameln.

Quelle

Jacob und Wilhelm Grimm, Die Kinder zu Hameln, Deutsche Sagen (Hrsg. Adolf Stoll), Leipzig : Hesse & Becker, o.J., No. 245, S. 271 - 274, Zu Bad Pyrmont: Bd. 30 (Annalen), S. 80f