Die alte deutsche Bierstadt

- 1915 -

Besuch in Einbeck

Einbeck liegt von den Straßen der Welt in seine stille Mulde geflüchtet. Fern vorbei rauschen die eisernen Züge, die eine der großen Verkehrsadern Deutschlands bilden, und lassen nur eine kleine Bahn in gemächlicher und klingender Fahrt der Stadt den Anschluß an das große, heiße Leben des Vaterlandes geben. So liegt es ein wenig wie abgerutscht. Aber das verstärkt nur den Reiz dieser alten Siedlung [...].

Man könnte Einbeck ein mittelalterliches München nennen. Denn es war sein Bier, das seinen Namen einst durch fast ganz Europa trug. Dieses Getränk galt als das Köstlichste, was in diesen mittelalterlichen Jahrhunderten irgendwo in der Welt gebraut wurde, und die Münchner werden es nicht ohne Ingrimm hören, daß Einbeck selbst in ihrer bierberühmten Stadt ein eigenes Vertriebshaus für seine Produkte erbaute. Besonders bekannt aber, auch wegen seiner künstlerischen Schönheit, war das Einbecker Haus in Hamburg, das schon im Jahre 1300 zum Verkauf Einbecker Biere errichtet und bei dem Brand von 1842 zerstört wurde. In allen größeren Städten waren eigene Niederlagen von dem beliebten Trank aus Einbeck, und die alte Berühmtheit lebt noch allgemein in der Bezeichnung »Bock«, die heute für besonders gut gebraute Biere gilt und Belgien und Frankreich jedermann geläufig ist. Dieser Name kommt im Umlaut von der Endsilbe des Namens der alten deutschen Bierstadt. Fast lohnte es sich, dem Einbecker Bier eine ganze Chronik zu widmen. Ja, dieses Bier ist verbunden mit einem der historischsten Ereignisse Deutschlands, mit dem mutigsten und wohl folgenschwersten Augenblick von Luthers Leben; denn auf dem Reichstag zu Worms, als Luther »wie ein harter Fels« auf seiner Überzeugung verharrte und dies unerschrocken kundgab, indem er sagte: »Widerrufen kann ich nicht und will ich nicht, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und fährlich ist!«, da ließ ihm Herzog Erich von Braunschweig, der Katholische, einen vollen Krug Einbecker Bieres bringen, an dem sich der Reformator der deutschen christlichen Kirche nach seinen schweren Worten labte. Das war im Jahre 1521.

Freilich Goethe, der 1801 hier durchzog und sonst den Genüssen des Leibes das feinste Verständnis erwies, weiß nichts mehr von dem Biere Einbecks zu sagen. Er freut sich an dem wundersamen Eindruck, den die hochaufstrebenden, mit Sandsteinplatten belegten roten Dächer dieser Stadt vermitteln.*)
(Drei Jahre später wurde übrigens in Einbeck von dem Apotheker Dr. Sertürner das Morphium entdeckt).

Aber was lag denn auch zwischen 1521 und 1801! Mit tragischer und wuchtiger ausholenden Kreisen als irgendeine andere Stadt der Provinz mußte Einbeck dieselbe Geschichte: das Blühen, Vergehen und Wiedererstehen, mitmachen, die die Schicksale fast aller alten kleinen Hansastädte kennzeichnen, unter denen Einbeck einst eine der angesehensten war. In diesen drei Jahrhunderten war es nicht nur um sein Bier gegangen. Einbeck war im Mittelalter, so wie Alfeld, ganz aus eigener Kraft und ohne Hilfe natürlicher Schätze oder äußerer Zufälle eine bedeutende Gewerbe- und Handelsstadt geworden. Neben dem Brauen seines Bieres betrieb es besonders die Leinwandweberei, die die Häuser der Stadt und fast alle umliegenden Dörfer mit Arbeit füllte, und die, von berühmter Qualität, bis nach fremden Weltteilen verhandelt wurde.

Mit dem 15. Jahrhundert wurde Einbeck eine mächtige Stadt, gefüllt mit Arbeitskraft und Wohlstand, und das Erreichte zu schützen, umgab es sich mit Befestigungen, die es uneinnehmbar zu machen schienen. Aus seinen Mauern erhoben sich vierzig wehrhafte Türme, und fünf Tore schlossen die Straßen, über die seine Arbeit in die Welt drang und der Reichtum Einzug hielt. Das war in jener Zeit, da Kultur und Kunst Symbole der Erfolge im Erwerbsleben waren. Reiche Kirchen, gezierte Häuser erhoben sich an den Straßen. Die Stadt hatte ihre eigenen Künstler, Architekten, Maler, Erzgießer, die über ihre Mauern hinaus geschätzt waren.

Aber dann kamen Wallenstein, Tilly, Pappenheim. Oh, in diesen Städten lernt man diese Helden hassen, die Deutschland blutig beackert haben, daß das Land jahrhundertelang brach liegen bleiben mußte. Gebrandschatzt, geplündert und ausgesogen, immer wieder von neuem in wechselnder Reihenfolge, nur einige Jahrzehnte hindurch, aber mit einer Raserei betrieben, die die Erntekraft auf Jahrhunderte erschöpfte.

Es gibt Städte, die etwas wie einen unglückseligen Zauber an sich haben. Bei den einen ist es Wassernot, bei anderen Wirbelsturm, Erdbeben - bei Einbeck war es das Feuer. Die Stadt wurde unzählige Male auf die verhängnisvollste Weise von Feuersbrünsten überfallen und zerstört, und manchmal beim Lesen in den Blättern dieser Geschichte schlägt uns unheimliche Tragik mit dunkel balladenhafter Gewalt entgegen, so besonders bei der ungeheuerlichen Geschichte des Heinrich Diek und der Brandstiftung von 1540, auf die Luther in seiner Schrift wider Hanswurst einmal anspielt und die eigentlich den Wendepunkt im Glück Einbecks zeichnet. Der größte Teil der Stadt und 350 Menschen wurden die Opfer dieser Feuersbrunst, die das Werk des Papstes und des katholischen Herzogs Heinrich von Braunschweig gewesen sein soll. Jedoch noch kurz vor dem Dreißigjährigen Kriege zeigt eine Hochzeitsverordnung, die eine Einschränkung des Luxus verlangt, daß noch bedeutender Reichtum in der Stadt war, zugleich aber auch, daß die innere Kraft begonnen hatte, in Wohlleben zu erschlaffen.

Von jenen schweren Zeiten her hat Einbeck sich noch nicht ganz erholt. Es hat nie wieder die Einwohnerzahl erreicht, die es am Ende des 16. Jahrhunderts hatte, wenn es auch heute, wo beträchtliche Industrien, wie die großen Fahrradwerke von Stuckenbrok, die Tapeten- und Leinwandfabriken, Ziegeleien, Bierbrauereien usw., und moderne Fachschulen für Webekunst und Maschinenbau es stark mit im Zug der jungen Zeit aufwärts ziehen, in fortwährendem Wachsen begriffen ist.

Aber was von jenen alten und reichen Jahrhunderten blieb, das ist das schöne Gefäß, in dem sich einst diese Fülle bewegt - die alten Straßen und Gebäude, die die erhabene Vergangenheit dem Herz und Auge des Wanderers gelassen hat, der auf seinen Entdeckungsreisen irgendwie hierhin getrieben wird. Als Bild gehört Einbeck noch zu den geschlossensten altertümlichen Städten Deutschlands. [...]


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*) In seinen »Annalen«, den »Tag= und Jahresheften« zur Ergänzung seiner »sonstigen Bekenntnisse« notierte Goethe, der sich bis dahin in Göttingen aufgehalten hatte, für den 12. Juni 1801:
Der Weg nach Pyrmont bot mir neue Betrachtungen dar: das Leinetal mit seinem milden Charakter erschien freundlich und wöhnlich, die Stadt Eimbeck, deren hoch aufstrebende Dächer mit Sandsteinplatten gedeckt sind, machte einen wundersamen Eindruck. Sie selbst und die nächste Umgebung mit dem Sinne Zadigs durchwandelnd, glaubt' ich zu bemerken, daß sie vor zwanzig, dreißig Jahren einen trefflichen Burgemeister müsse gehabt haben. Ich schloß dies aus bedeutenden Baumpflanzungen von ungefähr diesem Alter.

Anmerkungen

Ob »Bockbier« wirklich als Ausweis für »besonders gut gebrautes« Bier steht (oder nicht eher für eine bestimmte Art von Starkbier), lassen wir einmal offen. In jedem Fall leitet sich der Name vom »einpöckischen« Bier ab, was der Autor ein bißchen vage (»Umlaut«) formuliert. Weiteres zu Norbert Jacques und seinen Reise-Reportagen: siehe unter »Hildesheim«

Quelle

Norbert Jacques, Einbeck. In: Niedersachsen. Ein Heimatbuch (Hrsg. B. Flemes), Leipzig : Brandstetter, 19222, S. 102 -106

Johann Wolfgang Goethe, Annalen. In: Sämtliche Werke. Jubiläums=Ausgabe (Hrsg. Eduard von der Hellen) Stuttgart und Berlin : J.G. Cotta, o.J. [1902], Bd. 30, S. 76